Machen wir uns nichts vor: Trotz aller Bemühungen um gegenseitiges Verständnis und Inklusion haben Menschen mit Behinderung es in unserer Gesellschaft noch immer schwer. Das zeigt sich in vielen Bereichen des täglichen Lebens, zum Beispiel in der Schule, im Beruf, im ÖPNV und bei der Wohnungssuche. Ganz besonders gilt es aber für die Liebe. Welcher nichtbehinderte Mensch mag sich schon freiwillig auf die besonderen Herausforderungen eines Lebens mit Behinderung einlassen? Die Enttäuschungen und die Einsamkeit, die daraus entstehen, haben viele behinderte Menschen schon oft thematisiert und bearbeitet.
Tim nicht. Trotz seiner Muskelatrophie, die ihn beinahe bewegungsunfähig macht, ist der 46-Jährige keiner, der die Hände in den Schoß legt und sein Schicksal bedauert. Tim ist ein Macher im besten Sinn. Mit Hilfe seiner sieben Assistenten hat er sein Leben so organisiert, dass er nicht nur vollständig selbstständig lebt, sondern sich auch noch ehrenamtlich engagieren kann. In seinem Wohnort und über die Grenzen hinaus ist Tim deshalb bekannt wie ein bunter Hund. Seine Hilfsbereitschaft ist sprichwörtlich und seine immer fröhliche und aufgeschlossene Art ansteckend.
Das Märchen fällt erst mal aus
Das findet auch Aline Engels anziehend. Und natürlich Tims unwiderstehlichen blauen Augen. Die Managerin verwirrt das, aber sie möchte mehr über den Mann erfahren, der sie in seinen Bann zieht. Um ihm nahe zu sein, lässt sie sich alle möglichen Projekte einfallen, bei denen er mitwirken soll. Auch wenn es ihr vorläufig nicht gelingt, mit Tim mal ganz alleine zu sein, verliebt sie sich in ihn. Damit ist der Grundstein zu einem modernen Märchen gelegt: Erfolgreiche Frau verliebt sich in einen schwerbehinderten Mann, der packt sein seltenes Glück beim Schopf und die beiden werden ein Paar.
Doch es kommt anders. Denn Tim kann mit den Avancen von Aline nichts anfangen. Nicht etwa, weil er die fremde Frau unsympathisch findet. Vielmehr hat er sein Leben genau durchgetaktet: organisatorisch, aber auch emotional. Wer sich wie Tim körperlich nicht bewegen kann, muss geistig und gefühlsmäßig topfit und flexibel sein, um selbstständig zu bleiben. Alleine die Organisation und der Umgang mit sieben Assistenten erfordern viel Fingerspitzengefühl. Emotionale Experimente und Enttäuschungen können da gravierende Auswirkungen haben. Aline begreift, dass sie ein anderes Verständnis braucht, und nimmt einen neuen Anlauf. Schließlich gelingt es ihr, Tims Herz zu gewinnen, die beiden werden ein Paar.
Authentisch, nah, packend
Nach dem Taumel des ersten Verliebtseins beginnt für beide die Herausforderung, ihr gemeinsames Leben zu gestalten. Dabei muss viel Vertrautes auf den Prüfstand, Werte müssen neu definiert werden, Freiräume geschaffen und verteidigt werden. Das ist mal anstrengend, mal ernüchternd und manchmal urkomisch – aber immer getragen von der gegenseitigen Liebe. Gerade, indem es Aline und Tim gelingt, ihre so gegensätzlichen Welten zu synchronisieren, vertieft sich ihre Partnerschaft umso mehr. Mittlerweile sind sich beide sicher, das Richtige getan und die Liebe ihres Lebens gefunden zu haben.
Diesen ungewöhnlichen Weg hat Aline Engels nun in einem Buch aufgeschrieben. Sie beschreibt die Erlebnisse aus ihrer nichtbehinderten Sicht, was das Buch sehr authentisch und das Leseerlebnis sehr fesselnd macht. Aline verzichtet dabei glücklicherweise auf Pathos, (verstecktes) Eigenlob oder gesellschaftliche Überhöhungen. Die Geschichte von ihr und Tim ist ein Beleg des puren Lebens. Genau deshalb ist „Doppelbett mit Liebesbrücke“ eine packende Lektüre. Beim Lesen erlebt man die Irrungen und Wirrungen der beiden Protagonisten auf ihrem Weg zueinander hautnah mit, und die manchmal unfreiwillige Komik bringt den Leser unweigerlich zum Lachen. Und so ist das Buch geworden, was es eigentlich nicht werden sollte: ein Lehrstück für mehr Toleranz und Mut.
Doppelbett mit Liebesbrücke, 264 Seiten, Juli 2015, neokooks Selfpublishing,
Taschenbuch: ISBN 978-3-940210-78-4, 14,99 Euro
eBook: ISBN 978-3-7380-3295-6, 9,99 Euro
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