Was für viele Menschen nur ein ganz normaler, schöner Sommer ist oder ein paar tropische Tage sind, fühlt sich für andere an wie ein Fieber, das den ganzen Körper lähmt. Nicht selten wird die Gefahr unterschätzt – von Außenstehenden, von Institutionen, aber auch von Betroffenen selbst. Dabei zeigen Studien eindeutig: Menschen mit Behinderungen sind während Hitzewellen bis zu fünfmal häufiger gefährdet, gesundheitliche Krisen zu erleiden oder gar zu versterben.
Wenn der Körper nicht kühlen kann
„Es ist, als würde ich innerlich kochen“, beschreibt Sabine Kleinschmidt, die mit Multipler Sklerose (MS) lebt, ihre Erfahrungen. „Sobald es über 30 Grad wird, kann ich mich kaum noch bewegen, mein Kreislauf bricht zusammen.“ Der Grund dafür liegt in einer Besonderheit vieler neurologischer Erkrankungen: Die natürliche Temperaturregulation funktioniert nicht oder nur eingeschränkt. Menschen mit Querschnittslähmung, MS oder Parkinson können kaum oder gar nicht schwitzen. Die überschüssige Wärme staut sich im Körper – mit teilweise dramatischen Folgen.
Auch Menschen mit chronischen Atemwegserkrankungen wie COPD oder schwerem Asthma haben ein erhöhtes Risiko. Die ohnehin eingeschränkte Lungenfunktion wird durch heiße, feuchte Luft zusätzlich belastet, der Sauerstoffgehalt im Blut sinkt. Schwindel, Erschöpfung, akute Atemnot – all das kann binnen weniger Minuten eintreten.
Vorsicht vor dem schleichenden Risiko
„Das größte Problem ist, dass man die Gefahr nicht sofort spürt“, sagt ein Betroffener mit inkompletter Querschnittlähmung. „Mir wird nicht warm auf der Haut, aber mein Kreislauf bricht irgendwann einfach zusammen.“ Tatsächlich ist das Fehlen von Warnsignalen einer der tückischsten Faktoren. Wer nicht schwitzen kann, empfindet die Hitze anders – oder gar nicht. Viele Menschen verlassen sich auf die körperlichen Rückmeldungen, die ihnen aber fehlen.
Hinzu kommt: Manche Medikamente verstärken die Risiken zusätzlich. Diuretika entwässern den Körper, Neuroleptika und Antidepressiva beeinflussen die Thermoregulation, Beta-Blocker senken den Blutdruck. In Kombination mit hohen Temperaturen wird aus einer stabilen Situation rasch ein Notfall.
Hitze fühlt sich an wie Fieber – ist es aber nicht
Viele Betroffene vergleichen die Symptome einer Überhitzung mit Fieber: Mattigkeit, Kopfschmerzen, Schwindel, Konzentrationsverlust. Der Vergleich ist nachvollziehbar – und doch wichtig zu differenzieren. Bei Fieber erhöht der Körper von sich aus den Sollwert der Temperatur, um zum Beispiel eine Infektion abzuwehren. Im Gegensatz dazu ist bei Hitzeüberlastung nicht der Sollwert der Körpertemperatur erhöht, vielmehr gelingt es dem Körper nicht mehr, überschüssige Wärme abzugeben.
Daher helfen fiebersenkende Medikamente wie Paracetamol oder Ibuprofen in diesem Fall nicht – im Gegenteil. Sie entlasten den Körper nicht und können den Kreislauf zusätzlich schwächen. Stattdessen gilt: Nur aktive Kühlung bringt Erleichterung. Einige physikalische Fiebersenkungsmaßnahmen können hingegen auch bei Hitzeüberlastung helfen, weil sie einfach die Körpertemperatur senken, egal aus welchem Grund:
- Wadenwickel mit lauwarmem Wasser (nicht eiskalt!)
- Feuchte Tücher auf Stirn, Nacken, Pulsstellen
- Fußbäder mit handwarmem Wasser
Praktische Strategien für heiße Tage
Was also können Menschen mit Behinderungen tun, um sich zu schützen? An erster Stelle steht eine gute Vorbereitung. Schon vor Beginn der heißen Tage sollten Hilfsmittel wie Kühlwesten, Ventilatoren oder (mobile) Klimageräte einsatzbereit sein. Fenster sollten am Morgen weit geöffnet und tagsüber konsequent verschattet werden. Nachts gilt: Lüften, was das Zeug hält.
Trinken ist essenziell – gerade dann, wenn das Durstgefühl fehlt. Für Menschen mit kognitiven Einschränkungen kann ein Trinkplan oder ein Erinnerungswecker hilfreich sein. Kleine Portionen über den Tag verteilt entlasten den Kreislauf und verhindern Dehydration. Auch Angehörige und Pflegekräfte sollten wachsam bleiben. Regelmäßige kurze Kontakte – sei es telefonisch oder persönlich – können Leben retten.
Vorsicht vor falschen Tipps!
Im Sommer und während Hitzeperioden kursieren in vielen Medien immer wieder Empfehlungen, wie man mit der Belastung umgehen soll. Dabei haben sich einige vermeintliche Weisheiten eingeschlichen, die seit Jahrzehnten weitergegeben werden – und dennoch falsch sind. Manche können im Ernstfall sogar genau das Gegenteil bewirken und lebensbedrohliche Folgen haben.
– Tagsüber Fenster schließen
Tagsüber die Fenster zu schließen, ist keine pauschal richtige Empfehlung. In einem sehr gut isolierten oder klimatisierten Gebäude kann es sinnvoll sein, die heiße Außenluft auszusperren. In anderen Fällen kann das Öffnen aller Fenster jedoch für einen Luftaustausch sorgen, der ein weiteres Aufheizen verhindert und gleichzeitig für frischen Sauerstoff sorgt. In vielen heißen Regionen der Welt käme niemand auf die Idee, tagsüber alle Fenster geschlossen zu halten.
– Mittagshitze
Die heißeste Zeit des Tages ist nicht mittags, sondern am späten Nachmittag oder Abend. Mittags kann zwar die Sonneneinstrahlung und UV-Belastung besonders intensiv sein, die Lufttemperatur baut sich aber über den Tag hinweg weiter auf. Abends erreicht sie häufig ihren Höhepunkt, ebenso die Ozonbelastung. Deshalb sollte man Aktivitäten im Freien vor allem dann vermeiden und erst lüften, wenn die Temperaturen tatsächlich sinken.
– Durchzug
Ein erhöhter Luftstrom durch Ventilatoren oder geöffnete Fenster führt in der Regel nicht zu gesundheitlichen Problemen wie Erkältungen oder einem steifen Nacken. Segler, Radfahrer oder Menschen am Meer sind oft stundenlang höheren Luftströmen ausgesetzt und empfinden das sogar als angenehm. Für Menschen mit bestimmten neurologischen Erkrankungen kann starker Luftzug im Gesicht allerdings unangenehm sein – für die meisten ist er jedoch unbedenklich und hilfreich.
– Feuchte Tücher
Die Empfehlung, mit feuchten Tüchern vor dem Ventilator zu kühlen, kann kurzfristig helfen. Allerdings steigt dadurch die Luftfeuchtigkeit, was die Hitze oft schwerer erträglich macht. Trockene Hitze lässt sich deutlich besser aushalten als feuchte. Diesen Effekt kennt man aus der Sauna: Durch den Aufguss sinkt zwar die Temperatur etwas, die Belastung für den Kreislauf steigt aber erheblich. Wer diese Methode nutzt, sollte sie nur kurzfristig anwenden und für ausreichenden Luftaustausch sorgen.
Der Sommer als Stresstest für Pflege und Assistenz
Angehörige und Pflegekräfte stehen in Hitzewellen vor besonderen Herausforderungen. Das Monitoring von Flüssigkeitsbilanz, Kreislaufparametern und Medikamentenverträglichkeit gehört zu den wichtigsten Aufgaben. Gleichzeitig brauchen viele Menschen Unterstützung bei der Umsetzung einfacher Maßnahmen: feuchte Umschläge, Kühlwesten anlegen, Getränke bereitstellen, die Raumtemperatur kontrollieren. „Viele denken immer noch, Ventilatoren seien gefährlich, weil sie angeblich zu Erkältungen oder steifem Nacken führen“, berichtet Gaby Möller, Pflegefachkraft aus einem Wohnprojekt für Menschen mit Behinderungen. „Tatsächlich sind sie eines der wirksamsten Mittel gegen Überhitzung.“
Gruppen mit höchstem Risiko
Nicht alle Behinderungen bergen das gleiche Risiko. Besonders gefährdet sind Menschen mit:
- Neurologischen Erkrankungen (z. B. Multiple Sklerose, Querschnittlähmung, Parkinson), weil ihre Thermoregulation massiv beeinträchtigt ist.
- Atemwegserkrankungen, da Hitze und Ozonbelastung die Lungenfunktion verschlechtern.
- Herz-Kreislauf-Erkrankungen, bei denen Kreislaufversagen droht.
- Kognitiven Einschränkungen (Demenz, geistige Behinderung), weil sie Gefahren schlechter einschätzen.
- Adipositas oder Bewegungsarmut, die ebenfalls Wärmestau begünstigen.
Anzeichen einer gefährlichen Überhitzung
Alarmzeichen, die Sie ernst nehmen müssen:
- starke Kopfschmerzen
- heiße, gerötete Haut
- Schwindel oder Ohnmacht
- Verwirrtheit, unklare Sprache
- Übelkeit oder Erbrechen
Was tun?
- sofort in den Schatten oder in einen kühlen Raum bringen
- Kleidung lockern
- aktiv kühlen (feuchte Tücher, Wadenwickel, Ventilator)
- Flüssigkeit anbieten, falls ansprechbar
- bei Bewusstseinsstörung: Notruf 112
Können Kühlwesten, Ventilatoren & Co. erstattet werden?
Kühlwesten, Ventilatoren oder Klimageräte werden in Deutschland in der Regel nicht von den Krankenkassen bezahlt, da sie nach § 33 SGB V meist nicht als Hilfsmittel anerkannt sind. Bei neurologischen Erkrankungen wie zum Beispiel Multipler Sklerose kann eine Kühlweste jedoch im Einzelfall erstattet werden, wenn ein ärztliches Attest die medizinische Notwendigkeit eindeutig belegt. Einzelne Betroffene haben so bereits eine Kostenübernahme erreicht.
Ventilatoren und Klimageräte gelten hingegen als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens. Sie müssen deshalb in der Regel privat finanziert werden. Ausnahme: Im beruflichen Kontext können Renten- oder Unfallversicherung oder das Integrationsamt Hilfsmittelkosten im Rahmen der Teilhabe am Arbeitsleben im Einzelfall tragen. Wichtig sind eine klare Begründung und ein Kostenvoranschlag.
Hitzeschutz braucht Barrierefreiheit
Hitze ist längst kein seltenes Phänomen mehr, sondern ein Dauerthema – auch in Deutschland. Wer mit einer Behinderung lebt, muss sich und seine Umgebung darauf einstellen. Das bedeutet nicht nur mehr Aufmerksamkeit im Alltag, sondern auch den Zugang zu Hilfsmitteln, Information und Assistenz. Hitzeschutz ist Teil der Barrierefreiheit – und der Selbstbestimmung.
Mit kluger Vorbereitung, guten Hilfsmitteln und dem Wissen um die eigenen Risiken wird die nächste Hitzewelle zwar für Menschen mit Behinderung nicht zu einem ganz normalen, schönen Sommer, aber sie lässt sich überstehen, ohne dass sie zur gesundheitlichen Katastrophe wird. Diese Vorbereitung ist angesichts des Klimawandels und immer häufigerer Hitzesommer in Deutschland existenziell wichtig.