MOBITIPP: Frau Bovelett, alle Welt spricht von „barrierefreien“ Webseiten. Sie sagen lieber „barrierearme“ Webseiten. Warum?
Anne-Mieke Bovelett: Bei „Barrierefreiheit” denken viele an 100 Prozent Barrierefreiheit. Diese Vorstellung ruft oft sinnlose theoretische Diskussionen hervor, wann dieser Zustand erreicht ist oder nicht. Menschen, die als Praktiker zum Beispiel Behördenwebseiten oder öffentliche Gebäude auf Barrierefreiheit prüfen müssen, können davon ein Lied singen.
Es geht aber auch nicht um faule Kompromisse. „Barrierearm” lässt Platz für Entwicklung und für Verständigung darüber, dass es an mancher Stelle auch genug sein darf – zumindest erst einmal.
MOBITIPP: Warum ist ein barrierearmes Internet so wichtig?
Anne-Mieke Bovelett: Es so unglaublich wichtig, weil die Organisation des Lebens immer stärker über das Internet verläuft ― von Behördenangelegenheiten bis zu Terminbuchungen in Arztpraxen. Wenn jetzt aber immer mehr Dienstleistungen ausschließlich online zur Verfügung gestellt werden, denken wir an Schulunterricht oder an das Homeoffice, sollten Webseiten für alle Menschen zugänglich sein.
Wer Webseiten nicht in vollem Umfang nutzen kann, ist von der Teilnahme am gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen. Das entspricht nicht den Vorstellungen der Menschen von Inklusion, wie sie auch in der UN-Behindertenrechtskonvention formuliert sind. Die gute Nachricht ist: Eine barrierearme Webseite einzurichten ist keine Raketenwissenschaft.
MOBITIPP: Wann ist eine Webseite barrierefrei bzw. barrierearm?
Anne-Mieke Bovelett: Die kurze Erklärung: Eine Website ist barrierefrei, wenn Menschen mit Einschränkungen beim Sehen, Hören, Bewegen oder beim Verarbeiten von Informationen bei der Nutzung keine negativen Auswirkungen erleben.
MOBITIPP: Erklären Sie gerne etwas ausführlicher, worum es geht.
Anne-Mieke Bovelett: Ich berufe mich da auf die Richtlinien für barrierefreie Webinhalte nach den WCAG 2.0.*) Sie unterscheiden drei Konformitätsstufen mit unterschiedlichen Anforderungen an die Barrierefreiheit: A, AA und AAA. Stufe A sollten wir gleich vergessen. So sind die meisten Webseiten aufgebaut.
Eine Webseite sollte mindestens Stufe AA entsprechen. Solche eine Seite muss mindestens über Tastatur und per Screenreader zu bedienen sein. Die Schriftgröße sollte mindestens 16 Pixel betragen. Die Farbkontraste müssen deutlich erkennbar sein. Die ALT Texte für die Bildbeschreibungen müssen stimmen. Eingebundene Videos benötigen Untertitel und zwar nicht die automatischen wie bei Youtube, sondern sehr präzise formulierte. Alle Texte sollten den Regeln der einfachen Sprache entsprechen.
Bei Stufe AAA sollte man alles aufbieten, was es nur gibt: Video-Transkripte, einfache Sprache, Vorlesemöglichkeit, Dark Mode usw. Webseiten von Bundesländern, Ministerien usw. sollten den Anforderungen der Stufe AAA entsprechen.
MOBITIPP: Was halten Sie von sogenannten Accessibility-Plugins? Diese Software-Tools versprechen die sofortige Herstellung von Barrierefreiheit.
Anne-Mieke Bovelett: Solche Tools sind keinesfalls die Lösung, auch wenn sie gut gemeint sein mögen. Wenn schon die Webseite im Innersten nicht barrierefrei angelegt ist, können solche Tools gar nichts ausrichten.
MOBITIPP: Wie kommt es überhaupt, dass so viele Webseiten weltweit nicht barrierefrei sind?
Anne-Mieke Bovelett: Viele Webseiten sind schon älter. Da war man sich der Problematik nicht ausreichend bewusst. Außerdem sind die weitaus meisten Webseiten weltweit in WordPress gebaut. Da kann man sich ganze Baukastensysteme kaufen, mit denen jeder Nutzer schnell eine hübsche Seite aufbauen kann. Dabei bleibt die Barrierefreiheit auf der Strecke. Das gilt natürlich auch für andere Anbieter, die aber einen sehr viel geringeren Marktanteil haben.
Die Situation wird sich schon bald ändern. Gesetzlich. Auch in Deutschland. In den USA gibt es bereits Gerichtsverfahren, bei denen es um Webseiten geht, die nicht mindestens Stufe AA verwirklicht haben.
MOBITIPP: Sehen barrierearme Webseiten zwangsläufig unattraktiver aus als die herkömmlichen Seiten?
Anne-Mieke Bovelett: Unternehmen und Grafiker befürchten oft, dass sie ihre Corporate-Farben und Designelemente nicht mehr einsetzen können. Dabei müssen Grafiker nur anders denken. Sie können die vorhandenen Farben und Elemente kreativ einsetzen. Man kann zum Beispiel schwarze Überschriften machen und mit den Unternehmensfarben gestalterische Linien oder Punkte setzen. Dadurch können sehr gelungene Kreationen entstehen.
MOBITIPP: Ist eine barrierearme Webseite teurer als eine herkömmliche Webseite?
Anne-Mieke Bovelett: Ja und nein. Wenn man eine Webseite komplett neu aufbaut und sich von Anfang eine Beraterin oder einen Berater an seine Seite holt, sind die Mehrkosten überschaubar. Diese Person kann frühzeitig mit allen Beteiligten – Designer, Entwickler, Texter, Marketing – sprechen. Sie achtet darauf, dass alle Richtlinien eingehalten werden, prüft und korrigiert die Zwischenergebnisse und sorgt dafür, dass alles gerade läuft.
Die teuerste Variante ist eine komplexe Webseite, die nachträglich umgestellt werden soll. Diese Aufgabe ist mit einem sehr alten, sanierungsbedürftigen Haus vergleichbar. Man weiß nie, welche neue Baustelle sich nach dem nächsten Arbeitsschritt auftut. Aber man muss auch da immer den Einzelfall betrachten.
MOBITIPP: Welche wirtschaftlichen Vorteile kann ein allgemein zugänglicher Webauftritt für einen Unternehmer haben?
Anne-Mieke Bovelett: Er nimmt seine aktuelle Zielgruppe in die Zukunft mit und erschließt neue Käuferschichten. Das gilt auch für die Hilfsmittelbranche: Rollstühle, Zuggeräte und andere Produkte werden zwar meist über Fachhändler vertrieben. Aber Interessenten informieren sich durchaus auf den Herstellerseiten und versuchen dann gezielt ihr Wunschprodukt zu bekommen.
Manche Unternehmer schätzen ihre Kunden auch falsch ein. So sagte mir der Grafikdesigner einer Firma, die hochpreisige Babykleidung und Spielsachen verkauft: Ich habe keine ältere Kundschaft. Da irrte er sich. Es sind nämlich die Großeltern, die solche teuren Sachen für ihre Enkel kaufen.
MOBITIPP: Vielen Dank für das Gespräch, Frau Bovelett.
*) „Richtlinien für barrierefreie Webinhalte 2.0“ (engl: Web Content Accessibility Guidelines 2.0; kurz: WCAG 2.0)
Mehr über Anne-Mieke Bovelett erfahrt Ihr auf ihrer (englischsprachigen) Webseite: www.annebovelett.eu