Bundestagswahl 2021: „Die Politik macht es nicht für uns!“

Oswald Utz, Behindertenbeauftragter der Stadt München, über seine Forderungen an die neue Regierung und die Kraft der Aktivisten.

Er ist ein Mann der klaren Worte und verfolgt seit vielen Jahren, was Politiker mit ihren Gesetzen, Vorschriften und Regelungen für Menschen mit Behinderungen tun – oder auch nicht: Oswald Utz, Behindertenbeauftragter der Stadt München, nutzt aufgrund seiner Glasknochenkrankheit einen Rollstuhl, ist zweifacher Familienvater und kämpft trotz vieler Widerstände und Rückschläge in der Sache noch immer für seinen Traum von einer inklusiven Gesellschaft
Oswald Utz im Porträt beim Telefonieren
© @Presse- und Informationsamt, Landeshauptstadt München, Michael Nagy
Aktivist bei der Stadt München
Oswald Utz ist seit 2004 ehrenamtlicher Behindertenbeauftragter der bayerischen Landeshauptstadt München. Der gebürtige Oberfranke hat von 1989 bis 1996 an der Ludwig-Maximilians-Universität München Geografie und Kommunikationswissenschaft studiert und war danach – und ist es bis heute – in verschiedenen Positionen für die Belange von Menschen mit Behinderungen tätig.

MOBITIPP: Herr Utz, wir haben uns mit den Wahlprogrammen der etablierten Parteien zur Bundestagswahl am 26. September 2021 befasst. Dabei haben wir festgestellt, dass die Parteien die Belange von Menschen mit Behinderung nicht mehr ignorieren können: Sie finden in allen Wahlprogrammen Erwähnung. Welche Bedeutung messen Sie diesen Aussagen zu?

Oswald Utz: Ich habe die insgesamt mehrere Hundert Seiten umfassenden Wahlprogramme bisher nicht gelesen und verglichen. Ich weiß auch nicht, ob ich sagen kann, dass ich den Inhalten gar keine Bedeutung beimesse. Das Entscheidende und gleichzeitig das große Problem ist doch, was daraus dann einen Gesetzestext bildet. Das ist doch für uns als Betroffene immer sehr ernüchternd und zeigt, dass wir uns auf die Parteien noch immer nicht verlassen können.

Wir Aktivisten müssen weiterhin selbst für unsere Ziele kämpfen. Die Politik macht das nicht für uns! Wenn wir uns in den letzten Jahren nicht so viel Gehör bei der Öffentlichkeit verschafft hätten und als Behindertenvertreter in den Städten, Kommunen, Verbänden und Organisationen auch mal Druck ausgeübt, wäre alles noch schlimmer. Wir können auch jeden engagierten Einzelkämpfer brauchen, der zum Beispiel in den sozialen Medien die Trommel für unsere Belange und Forderungen schlägt.

MOBITIPP: Haben Sie Beispiele, wo politische Gesetzgebung Ihrer Meinung nach versagt hat?

Oswald Utz: Wir haben seit 1. Januar 2020 das Bundes-Teilhabe-Gesetz. Es bleibt in vieler Hinsicht weit hinter den Erwartungen zurück. Schon damals haben wir Aktivisten deshalb gesagt: Das ist nicht mein Gesetz. Erst vor wenigen Wochen hat der Bundestag das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz von CDU/CSU und SPD verabschiedet. Im Kern geht es darum, dass die Privatwirtschaft endlich per Gesetz zwingend zur Barrierefreiheit verpflichtet wird. Was daraus wurde, ist in meinen Augen schlichtweg eine Farce.

Wenn man sieht, wann das Gesetz in Kraft treten soll beziehungsweise, welche unglaublich langen Übergangsfristen es für manche Bereiche gibt, kann ich das nur als Unverschämtheit bezeichnen. So wurde für „Selbstbedienungsterminals” wie zum Beispiel Geldautomaten eine Übergangsfrist von 15 Jahren, also bis 2040, festgelegt. Es ist nicht zu fassen.

MOBITIPP: Woran liegt das, dass scheinbar einfach zu bewerkstelligende Verbesserungen auf dem Weg in ein Gesetz verloren gehen? In vielen Ländern gelingt es doch auch, den Forderungen Nachdruck zu verleihen.

Oswald Utz: Meiner Erfahrung nach knickt die Politik in Deutschland immer noch zu oft vor den Lobbyisten ein. Sie lassen sich einreden, dass die Welt und die Wirtschaft untergehen, wenn die Unternehmer Vorgaben zur Barrierefreiheit einhalten müssen. Die vorbildlichen Unternehmer, die dazu kein Gesetz benötigen, zeigen ja, dass es geht. Dazu kommt, dass die meisten Politiker noch immer keine Ahnung haben, auf wie viele Barrieren Menschen mit Einschränkungen im Alltag stoßen.

Dabei ist es kein Hexenwerk, das wir Vertreter von Belangen behinderter Menschen verlangen. Wir sind ohnehin pragmatisch in unseren Vorstellungen. Das kann ich wirklich beurteilen. Man muss nur mal nach Österreich schauen. Da ist vieles fortschrittlicher als bei uns. Warum soll so etwas nicht bei uns funktionieren? Ich habe jedenfalls ganz klare Forderungen an eine neue Regierung.

MOBITIPP: Welche sind das?

Oswald Utz: Ich erwarte, dass sich eine neue Regierung endlich für eine umfassende Gesetzeslage einsetzt, die umgehend das Thema Barrierefreiheit in der Privatwirtschaft in Angriff nimmt. Und zwar alles, was damit zusammenhängt, also auch die Dienstleistungen. Ich möchte, dass ich meine Arztpraxis oder die Schulen für meine Kinder nicht nach Barrierefreiheit aussuchen muss, sondern die selbstverständliche Wahl habe, wie andere Menschen auch. Da sind wir weit entfernt.

Das Schlimme ist, dass an das Bundes-Teilhabe-Gesetz und an das Barrierefreiheitssstärkungsgesetz jetzt ein „Erledigt”-Haken gesetzt wurde und es extrem schwer sein wird, die Pakete wieder aufzuschnüren und Verbesserungen durchzusetzen.

Ein weiteres wichtiges Thema für mich ist das Wohnen. Die Politik muss individuelle ambulante Wohnformen viel stärker fördern als bisher. Wir müssen von den großen stationären Komplexeinrichtungen wegkommen.

Eine andere Forderung betrifft die Werkstätten für Menschen mit Behinderterungen. Sie bekommen noch immer einen Hungerlohn. Auch da muss man sich endlich bewegen und neue Ziele anvisieren.

Längst überfällig ist, dass die Politik die TV-Sender dazu verpflichtet, ihre Informationen allen Menschen zur barrierefreien Nutzung zur Verfügung zu stellen. Während der Pandemie habe ich viele ausländische Nachrichten gesehen. In vielen Ländern sind Gebärdensprachdolmetscher selbstverständlich. Wir schaffen das nicht. Beim Thema Leichte Sprache, barrierefreies Internet – da muss es endlich gesetzliche Regelungen geben.

MOBITIPP: Welche Informationen können Menschen mit Behinderung für ihre Wahlentscheidung heranziehen, die über die Wahlprogramme hinausgehen?

Oswald Utz: Wir Akteure nutzen zunehmend sogenannte „Wahlprüfsteine“ im Vorfeld von Wahlen. Das heißt, wir stellen konkrete Fragen an Politikerinnen und Politiker und bitten um Stellungnahme. Da können sie nicht so leicht ausweichen. Fragen und Antworten werden dann veröffentlicht. Ich selbst werde solche Wahlprüfsteine auch bei den kommenden Wahlkampfveranstaltungen einsetzen.

Ein anderes Kriterium bzw. eine andere Forderung von mir ist, dass Parteien Menschen mit Behinderung auf aussichtsreiche Listenplätze für die Bundestagswahlen setzen. Das Parlament bildet idealerweise den Querschnitt der Bevölkerung ab. Dabei geht es gar nicht darum, dass sich diese Abgeordneten vorrangig um Themen der Behinderung kümmern sollen. Aber ihre Sichtweise muss im bundesdeutschen Parlament auch angemessen repräsentiert werden.

MOBITIPP: Vielen Dank für das Gespräch, Herr Utz.

 

Leicht verständliche Informationen zur Bundestagswahl 2021:

Einfach Politik. Heft in einfacher Sprache mit Informationen rund um die Bundestagswahl 2021. Herausgeber ist die Bundeszentrale für politische Bildung /bpb.

Zum Bestellen oder als kostenfreier pdf-Download: https://www.bpb.de/shop/lernen/einfach-politik/329420/bundestagswahl-2021

(Text: Brigitte Muschiol)

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