Das Sitzen ist viel dynamischer als sein Ruf. Wenn Sie das nicht glauben, führen Sie doch einfach diesen Selbstversuch durch: Setzen Sie sich zum Lesen dieses Beitrags hin und verändern Sie Ihre Position bis zum Ende nicht. Kein bisschen. Sie werden etwa zehn Minuten unbewegt dasitzen müssen – wenn Sie das denn durchhalten. Normalerweise führt ein Mensch beim Sitzen nämlich bis zu 60 Mal in der Minute Mikrobewegungen aus, also kleinste Veränderungen seiner Position. Hinzu kommen vier bis fünf Makrobewegungen, bei denen er seine Position deutlich verändert.
Rollstuhlfahrer und insbesondere die Nutzer von E-Rollis sitzen hingegen oftmals bis zu zwölf oder vierzehn Stunden im Rollstuhl, ohne ihre Position zu verändern – einfach, weil sie es nicht können. Da das ganz offensichtlich wider die natürlichen Bewegungsabläufe ist, müssen diese Menschen beachtlichen Aufwand betreiben beziehungsweise erhebliche Einschränkungen hinnehmen, um keine dauerhaften Schäden davonzutragen. Mit speziellen und oftmals sehr teuren Sitzkissen versuchen die meisten Rollstuhlfahrer den Druck, der durch das dauerhafte Sitzen entsteht, zu reduzieren. Gelingt das nicht oder nicht ausreichend, muss der Rollstuhlnutzer zwischendurch entlasten, meistens im Liegen. Dennoch kommt es sehr häufig dazu, dass sich ein Druckgeschwür bildet. Das hat lebensbedrohliche Konsequenzen für den Betroffenen und ist obendrein teuer für die Solidargemeinschaft.
60 Mal höhere Verweilzeit im Rollstuhl
Bisher waren alle Maßnahmen passiv, die darauf ausgerichtet waren, Rollstuhlfahrer vom Druck des dauerhaften Sitzens zu entlasten. Mit dem Coseat hat Motion Solutions ein System entwickelt, dass es Fahrern von Elektrorollstühlen erstmals ermöglicht, eine aktive Druckentlastung durchzuführen, indem das natürlich Sitzverhalten simuliert wird. „Die ersten Ergebnisse, die wir damit erzielt haben, sind begeisternd“, berichtet Klaus Gierse, Geschäftsführer von moso. Beispielsweise kann eine an Multipler Sklerose erkrankte Frau, die jahrelang nicht mehr als zehn Minuten am Tag sitzen und ihre Wohnung nicht verlassen konnte durch den Coseat bis zu zehn Stunden am Tag in ihrem Rollstuhl verbringen, ohne seither Probleme mit Druckstellen bekommen zu haben.
Das Schwebemodul Coseat ist eine eigenständige Komponente, die einen Elektrorollstuhl ergänzt, indem sie zwischen dem Chassis und der Sitzeinheit montiert wird. Der Coseat ist nur 13 Zentimeter hoch und wiegt etwa 25 Kilogramm. In seinem Inneren verbirgt sich eine komplexe Mechatronik, die mit bis zu acht Motoren gleichzeitig arbeitet. Dadurch kann die Grundplatte des Coseat, auf der die Sitzeinheit des Rollstuhls montiert wird, in vier Dimensionen bewegt werden, also auch diagonal. Die Bewegung kann spontan über die einfach zu bedienende Ein-Tasten-Steuerung erfolgen oder auch einem vorher programmierten Muster folgen.
Alle Parameter frei programmierbar
Da alle Parameter frei programmierbar sind, können die Bewegungen des Coseat sowohl in der Neigung als auch in der Dauer genau auf die Anforderungen des Nutzers abgestimmt werden. Beispielsweise kann eine Seitenneigung von nur drei oder vier Grad nach rechts und links alle zehn Sekunden erfolgen. Für den Nutzer sind diese Mikropositionierungen kaum spürbar, sie simulieren aber das natürliche Sitzverhalten und führen deshalb zu einer entscheidenden Druckentlastung. Auf genau diese Weise hat die Frau im oben beschriebenen Fall ihre Lebensqualität entscheidend verbessert.
Auch, wenn bereits ein Dekubitus aufgetreten ist oder zum Beispiel eine Skoliose (seitliche Wirbelsäulenverkrümmung) vorliegt, kann der Coseat helfen. „Bisher mussten diese Menschen oftmals mit Keilen oder Kissen arbeiten, um in der richtigen Körperhaltung zu bleiben“, berichtet Klaus Gierse. Beim Coseat kann einfach die gewünschte Neigung eingegeben werden und der Patient bleibt in dieser Haltung. Sie wird dann als Grundeinstellung für weitere Bewegungsoptionen verwendet.
Automatischer Gefälleausgleich
Die programmierte Sitzposition bleibt auch unabhängig vom Gefälle des Untergrunds erhalten. Der Coseat ist mit einem Gyroskop ausgestattet, das eine Neigung des Bodens erkennt und sofort ausgleicht, und zwar in Relation zur programmierten Sitzposition beziehungsweise zum vorgegebenen Bewegungsmuster. Hat der Nutzer im Coseat eine leichte Neigung von drei Grad nach rechts auf ebenem Untergrund programmiert, wird er mit dieser Neigung auch auf einem Gehweg oder einer Rampe fahren, die ein seitliches oder horizontales Gefälle haben.
Unabhängig von medizinisch-therapeutischen Aspekten erhöht diese Funktion des Coseat die Kippstabilität vieler Nutzer von Elektrorollstühlen. Weil viele von ihnen keine oder nur eine eingeschränkte Kontrolle des Oberkörpers haben, fällt es ihnen an Rampen und anderen Unebenheiten schwer, die Balance zu halten. Selbst wenn die Gefahr, aus dem Rollstuhl zu fallen, nicht immer tatsächlich gegeben ist, das entsprechende Gefühl ist allemal unangenehm.
Chinesisches Interesse an Remscheider Innovation
Nach seiner langen Entwicklungszeit ist der Coseat nun serienreif. Bisher wird er vor allem in der Versorgung von Menschen mit sehr starken körperlichen Behinderungen eingesetzt. Das hat zum einen damit zu tun, dass viele Menschen, denen der Coseat helfen würde, noch gar nicht von ihm wissen. „Im Prinzip müsste der Coseat ein fester Bestandteil in jedem Elektrorollstuhl sein, um den Nutzern körperliche Schäden zu ersparen und das Fahren für Sie sicherer zu machen“, sagt die Rollstuhlfahrerin und Paralympicssiegerin Karina Lauridsen, die inzwischen als Physiotherapeutin arbeitet.
„Für solche Stückzahlen bräuchten wir allerdings einen großen Partner aus der Industrie“, stellt Klaus Gierse fest. Einige Interessenten haben sich bereits gemeldet. Zum Beispiel war im Oktober 2019 die Delegation eines chinesischen Investors in Remscheid, um sich den Coseat genau anzuschauen. Es bewegt sich also etwas bei den E-Rollis – im doppelten Wortsinn. Apropos Bewegung: Haben Sie es durchgehalten, sich bis hierhin nicht mal ein kleines bisschen ihre Position zu verändern?