MOBITIPP: Herr Dr. Trabert, gibt es unter armen Menschen besonders viele Menschen mit Behinderung?
Dr. Gerhard Trabert: Es gibt Untersuchungen, auch von der Weltgesundheitsorganisation WHO, die beschreiben, dass unter den Ärmsten rund 20 Prozent der Menschen eine Behinderung haben. Dabei zeigt sich: Der Faktor Armut korreliert sehr stark mit Behinderung. Das heißt, es gibt eine starke Wechselbeziehung. Man kann sagen: Behinderung fördert Armut und Armut fördert Behinderung.
MOBITIPP: Wie zeigt sich das konkret?
Dr. Gerhard Trabert: Menschen, die in Armut leben, haben häufiger keinen Zugang zu einer adäquaten Gesundheitsversorgung, zu sauberem Trinkwasser und gesunder Nahrung. Für sie gibt es auch nur wenig Bildungsmöglichkeiten. All das erhöht die Risikofaktoren für eine Behinderung oder chronische Erkrankung ganz erheblich. Das ist bei uns in Deutschland ähnlich, wenn auch die einzelnen Faktoren nicht vergleichbar sind. Wir wissen zum Beispiel, dass die Frühgeburten- und Mangelgeburtenrate bei Frauen, die bei uns in einer Einkommensarmut leben, deutlich erhöht ist.
Umgekehrt ist bekannt, dass Menschen mit einer Behinderung wenig Möglichkeiten haben, ihren Lebensunterhalt selbst zu finanzieren. Dadurch sind sie häufig mehr Repressionen ausgesetzt als Menschen ohne eine Behinderung. Nach Erkenntnissen von Unicef haben ungefähr 30 Prozent der Straßenkinder eine Behinderung. Kinder mit einer Behinderung wiederum erleben deutlich mehr Missbrauch und Gewalt als Kinder, die keine Behinderung haben. Da gibt es sehr viele Korrelationen zwischen Menschen mit Behinderung und Armut – in die eine wie in die andere Richtung.
MOBITIPP: Fördert Armut die Entstehung beziehungsweise das Fortschreiten von Behinderungen?
Dr. Gerhard Trabert: Das ist so. Das ist für mich ein ganz wichtiger Punkt, denn Armut ist auf strukturelle Defizite zurückzuführen. Das gilt weltweit. Armut kommt nicht aus dem Nichts. Dass es immer noch so viel Armut in der Welt gibt, hat etwas mit Strukturen, mit unserem Reichtum zu tun. Das geht zum Teil bis auf die Kolonialzeit zurück. Unsere Handelsverträge manifestieren im Prinzip bis heute die Armut in den einstigen Kolonialländern.
Aber auch bei uns gibt es strukturell bedingte Armut. Zum Beispiel haben Bezieher von Hartz IV für ein fünfjähriges Kind noch nicht einmal drei Euro für Frühstück, Mittagessen und Abendbrot zur Verfügung. Für Gesundheitsausgaben sind ungefähr 17 Euro im Monat veranschlagt. Einkommensarmut aber fördert das Entstehen von Erkrankungen und vor allem das Fortschreiten einer Erkrankung bis zur Chronifizierung, die zu einer Behinderung führen kann.
Meist denkt man auch nicht daran, dass Krebserkrankungen deutlich häufiger bei von Armut betroffenen Menschen vorkommen. Das hängt zum Beispiel auch damit zusammen, dass die Ernährung, die Gesundheitsversorgung, die finanziellen Möglichkeiten schlechter sind. Das gesamte Gesundheitsrisikoverhalten ist höher – Zigarettenkonsum, ungesunde Ernährung, Bewegungsmangel. Aber das muss man immer in Verbindung mit dieser prekären Lebenssituation sehen.
MOBITIPP: Sind von Armut betroffene Kinder auch bei uns gefährdeter, was ihre Gesundheit betrifft?
Dr. Gerhard Trabert: In diesem Zusammenhang ist die KiGGS-Studie interessant, die Langzeitstudie des Robert-Koch-Instituts zur Gesundheit der Kinder und Jugendlichen. Demnach tragen von Armut betroffene Kinder bei Unfällen deutlich häufiger gravierende Verletzungen davon, die bis zu einer Behinderung führen können. Weil sie zum Beispiel seltener Protektoren tragen, seltener Helme haben als Kinder von wohlhabenden Eltern. Das hat nicht unbedingt etwas mit fehlender Bildung zu tun. Gute Ausrüstungen kosten einfach Geld.
MOBITIPP: Wie unterscheidet sich die Situation von Obdachlosen mit Behinderung in Deutschland von der Situation behinderter Geflüchteter in Moria oder anderswo?
Dr. Gerhard Trabert: Die Versorgung in Deutschland ist natürlich komplett anders als in Moria und auf den anderen griechischen Inseln. In Deutschland haben obdachlose Menschen mit einer Behinderung – und die ist meist psychischer Natur – schon das Recht auf eine Versorgung. Und wenn sie das möchten, kann man da auch vieles für sie erreichen. Natürlich ist das Leben als Obdachloser dann auch nicht gerade förderlich, aber dies ist nicht vergleichbar mit Moria.
Auf Lesbos zum Beispiel gibt es eine einzige Physiotherapeutin, die auf freiwilliger Basis hier ist. Sie behandelt im Camp Menschen mit Behinderung in einem Container. Es gibt ansonsten so gut wie keinen Zugang zu Hilfsmitteln, Rehamaßnahmen und Physiotherapie. Auch eine Prothesenwerkstatt existiert nicht. Wir haben für eine junge Frau aus Afghanistan in Deutschland eine neue Unterschenkelprothese anfertigen lassen und es war sehr bewegend zu sehen, was das mit ihr gemacht hat, wieder normal gehen zu können.
MOBITIPP: Nach EU-Aufnahmerichtlinien und UN-Behindertenrechtskonvention sind Menschen mit Behinderung eine besonders schutzbedürftige Personengruppe. Macht sich das in den Flüchtlingslagern bemerkbar?
Dr. Gerhard Trabert: Deren Bedürfnisse – besondere Unterkünfte, Barrierefreiheit, Zugang zu einer medizinischen Versorgung – stehen überhaupt nicht im Fokus. Das erschüttert mich immer wieder. Das UN-Flüchtlingswerk UNHCR weiß um diese Menschen und es geschieht nichts.
Das gilt übrigens weitgehend auch für die Unterkünfte Geflüchteter in Deutschland. Selbst in meiner Heimatgemeinde wurden wir um Hilfe gebeten. Da ging es um einen Rollstuhlfahrer, der wegen fehlender Barrierefreiheit nicht einmal in die Dusche konnte. Auch hier in Deutschland muss man immer wieder dafür kämpfen, dass die Menschen adäquat versorgt werden.
MOBITIPP: Ist eine Soforthilfe, indem man Hilfsmittel zur Verfügung stellt, tatsächlich eine Hilfe für die Betroffenen oder beruhigt man damit nur das eigene Gewissen, weil diese Art von Hilfe häufig nicht nachhaltig sein kann?
Dr. Gerhard Trabert: Ich kann da nur sagen: Das eine tun, ohne das andere zu lassen. Soforthilfe ist ja auch ein Zeichen, dass ein Mensch nicht vergessen ist. Das ist so wertvoll. Von Krücken über Rollstühle bis zu Orthesen – da gibt es wirklich einen großen Bedarf.
Gleichzeitig muss man an die Politiker nachhaltig Forderungen stellen. Lesbos, das neue Moria 2.0-Camp – das ist kein Lebensraum für Menschen. Insbesondere nicht für Menschen, die eine körperliche oder psychische Einschränkung haben. Solche Lager müssen aufgelöst werden und die Menschen nach der Behindertenrechtskonvention und den EU-Aufnahmerichtlinien in ganz Europa versorgt werden. Deutschland muss da vorneweg gehen, weil wir das wirtschaftlich stärkste Land sind.
MOBITIPP: Wo finden Sie Ihre Patienten und wie entscheiden Sie, wo Sie helfen?
Dr. Gerhard Trabert: In Deutschland haben wir das „fahrbare Sprechzimmer”, das Arztmobil. Da habe ich bestimmte Touren. Wo genau wir konkret gebraucht werden, erfahren wir zum Beispiel von anderen Akteuren in der Obdachlosen-Szene, mit denen wir in Kontakt stehen. Auch Betroffene geben uns Hinweise, wo ein Mensch unsere Hilfe benötigt. Da gibt es eine große Fürsorge untereinander.
Wie suche ich Hilfsprojekte aus? Teilweise schließe ich mich Organisationen wie Sea-Watch, Resqship, humedica und Cadus an, die in Krisenregionen gehen. Seit ein paar Jahren suche ich zunehmend selbst. So bin ich im März nach Moria geflogen, um ein Zeichen der Solidarität zu setzen. Dort habe ich Fabiola, eine chilenische Physiotherapeutin, kennengelernt und das Ganze hat eine Eigendynamik bekommen. Das ist im Grunde eher so, dass ich gefunden werde, als dass ich gezielt suche.
Hier erfahren Sie mehr über den Verein „Armut und Gesundheit in Deutschland“: www.armut-gesundheit.de. Informationen über die Arbeit des Teams um Dr. Gerhard Trabert finden Sie unter folgendem Link: https://www.armut-gesundheit.de/was-wir-tun/
Wer etwas für die Menschen auf den griechischen Inseln tun möchte, hat die Möglichkeit zu spenden: Ab dem 21. Dezember 2020 wird das Solidaritätsprojekt mit Menschen mit Handicaps im Moria 2.0 Camp – auch Kara Tepe Camp genannt – auf der Webseite des Vereins veröffentlicht.
Auf der Webseite finden Sie noch weitere Projekte, die Sie unterstützen können.