MOBITIPP: Frau Schöck, mögen Sie uns einen Einblick in Ihr Lebensumfeld geben?
Kerstin Schöck: Wir wohnen in Stuttgart. Mein Ehemann Bernd ist seit 1997 an meiner Seite. Verheiratet sind wir seit 2002. Unser Sohn Felix ist 19 Jahre alt und wird ab Oktober in Stuttgart Wirtschaftsinformatik studieren. Ich bin gelernte Bauzeichnerin. Doch während der Elternzeit wurde ich verrentet.
Mein Mann ist den ganzen Weg meiner Erkrankung mit mir gegangen. Er hat immer neue Ideen, wie wir unser Leben einfacher gestalten können und mir dadurch möglichst viel Selbstständigkeit erhalten bleibt.
MOBITIPP: Wir organisieren Sie Ihre Pflege?
Kerstin Schöck: Meine Pflege hat mein Mann übernommen. 2003 hat er sich wegen meines zunehmenden Unterstützungsbedarfs mit Kind und Haushalt selbstständig gemacht. So kann er seine Zeit flexibler einteilen. Bis zur Pandemie 2020 haben wir über die Jahre auch Hilfskräfte beschäftigt. Über diese Erfahrungen könnte ich ein Buch schreiben. Das Geld für pflegende Angehörige reicht leider nicht aus, um eine feste Kraft zu engagieren.
MOBITIPP: Wie haben Sie Ihre fortschreitende Erkrankung erlebt?
Kerstin Schöck: 1994 bekam ich die Diagnose Multiple Sklerose. 20 Jahre lang waren nur die Beine betroffen. In der Wohnung bin ich anfangs noch gut zurechtgekommen – je nach Tagesform mit Rollator oder Gehstock. 2002 habe ich meinen ersten Aktiv-Rollstuhl bekommen. Nach und nach ist er immer öfter auch in der Wohnung zum Einsatz gekommen.
Seit 2005 kann ich gar nicht mehr gehen. 2006 haben wir deshalb unser Bad umgebaut und eine Metalltreppe mit einem Treppenplattformlift über den Balkon unserer Wohnung im ersten Stock in den stufenlos erreichbaren Hinterhof bauen lassen. Davor musste mich mein Mann häufig über die Treppen im Treppenhaus ohne Aufzug mit dem Rollstuhl nach oben ziehen.
Seit 2009 ist kein selbstständiger Transfer mehr möglich. 2013 gab es den Verdacht auf Myasthenia Gravis (MG), da meine neuen Symptome untypisch für meinen MS-Verlauf waren. Die Kraft in den Armen wurde deutlich und immer schneller weniger. Daraufhin rüsteten wir den Aktiv-Rollstuhl mit einem elektrischen Zusatzantrieb (e-fix) aus.
Ab 2015 konnte ich nicht mehr selbstständig essen. Ich war kraftlos in Armen, Händen und Rumpf. Die Kraft in Atmung und der Stimme wurden schlechter. Dann kam die Diagnose: Lambert-Eaton-Syndrom (LEMS), also eine weitere Autoimmunkrankheit. Wobei das grundsätzlich für mich nichts änderte. Egal, welchen Namen die Krankheiten haben: Beide sind unheilbar, immer noch nicht gut genug erforscht und deshalb nicht wirklich behandelbar.
MOBITIPP: Was macht Ihnen am meisten zu schaffen?
Kerstin Schöck: In den letzten Jahren machte mir vor allem zu schaffen, dass ich nicht so intensiv für unseren Sohn da sein konnte, wie ich es gerne gewollt hätte. Felix musste viel zurückstecken. Heute macht mir am meisten zu schaffen, dass ich Bernd und Felix nicht einfach mal spontan in den Arm nehmen, küssen und knuddeln kann! Außerdem tut es mir in der Seele weh, dass ich meinem Mann für seine aufopfernde Pflege niemals zurückgeben kann, was er eigentlich verdienen würde.
MOBITIPP: Mit welcher Einstellung gestalten Sie Ihr Leben?
Kerstin Schöck: Diese Frage ist gar nicht so einfach zu beantworten! Mein Mann würde wahrscheinlich sagen, ich sei immer viel zu pessimistisch. Freunde würden mit Sicherheit das Gegenteil sagen. Vermutlich bin ich nur nicht so außergewöhnlich optimistisch wie Bernd.
Ich versuche zufrieden zu sein, wie es ist und mich nicht ständig mit gesunden Menschen zu vergleichen. Es könnte auch deutlich schlechter sein! Das Leben ist viel zu schön, um sich nur mit Negativem zu befassen! Probleme werden behandelt, wenn sie eingetreten sind und bis dahin ist doch alles gut!
MOBITIPP: Was macht Ihnen Freude?
Kerstin Schöck: Als Felix noch klein war, haben zwei liebe Freundinnen einfach einen Zwillings-/ Geschwisterwagen besorgt, in dem Felix zusammen mit einem ihrer Kinder lag. So konnten wir vieles gemeinsam unternehmen!
Aktivitäten und Hobbys sind heute gar nicht mehr so einfach zu realisieren. Aber es sind ohnehin die kleinen Dinge, die mich glücklich machen: Treffen mit meinen Freunden, gemeinsam etwas mit der Familie zu unternehmen, einfach nur einen gemütlichen Spaziergang durch den Park oder auch so alltägliche Sachen wie zur Ergo-/ Physiotherapie zu gehen und mich dort mit meinen Therapeuten und anderen Patienten zu unterhalten, mal einen guten Film oder eine gute Serie zu sehen, selbst einfach nur lecker essen zu gehen!
Was ich heute noch sehr gerne mache, sind kreativen Sachen am Computer: Videos schneiden, Präsentationen gestalten, Freunden bei Einladungskarten behilflich sein, Fotocollagen oder allgemeine Fotobearbeitung, Fotobücher oder Ähnliches. Ich brauche sicher länger als andere. Aber wenn das Ergebnis schön wird, macht es mich glücklich.
Manchmal vergesse ich sogar, dass ich krank bin. Das wird mir dann erst wieder bewusster, wenn ich die Reaktionen fremder Menschen mitbekomme: Sie reagieren oft geschockt oder entsetzt und verstehen überhaupt nicht, dass ich in „meiner“ Situation so glücklich sein kann!
MOBITIPP: Haben Sie viel Austausch mit Menschen in Ihrer Lage?
Kerstin Schöck: Leider nur sehr wenig. Ich bin seit vielen Jahren mit ganz wenigen Menschen, die auch MS haben oder Angehörige sind, per E-Mail oder WhatsApp in Verbindung. Es wäre schön, wenn ich mich mit noch mehr Menschen in meiner Situation austauschen könnte. Aber es ist gar nicht so einfach, jemanden zu finden, der trotz der Erkrankung offen für das Leben mit all seinen Facetten ist.
MOBITIPP: Welche Hilfsmittel nutzen Sie, um Ihre Selbstständigkeit zu erhalten?
Kerstin Schöck: Da meine Multiple Sklerose kein typisch schubförmiger Verlauf ist, konnte ich mich langsam auf meine Behinderungen und Hilfsmittel einstellen. Jede weitere Verschlechterung, für die ein zusätzliches Hilfsmittel brauchte, war zwar immer ein Lernprozess. Aber dabei merk(t)e ich, dass mir diese Hilfsmittel wieder mehr Selbstständigkeit und Lebensqualität zurückbrachten. So konnte ich mich damit nach und nach anfreunden.
Meinen ersten Rollstuhl habe ich bereits 2002 bekommen. Einige Jahre später bekam ich meinen ersten Elektrorollstuhl für den Außenbereich. Da ich dadurch nicht mehr ständig geschoben werden musste und mir der Elektrorollstuhl wieder wesentlich mehr Selbstständigkeit und Freiheit brachte, konnte ich das richtig genießen. Im selben Jahr kauften wir uns einen gebrauchten, bereits umgebauten VW-Bus, in dem ich im Rollstuhl auf der Beifahrerseite mitfahren kann.
Seit 2017 habe ich einen Elektrorollstuhl von SKS Rehab („Viva Plus”) mit Kinn-Steuerung, um mich so gut wie möglich innerhalb der Wohnung selbstständig bewegen zu können. Dafür bin ich sehr dankbar.
Seit 2018 habe ich an meinem Rollstuhl zusätzlich einen Roboterarm, den „Jaco” von Kinova. Damit kann ich zum Beispiel selbstständig trinken, Sachen aufheben, Türen auf und zu machen und Lichtschalter betätigen. Seit 2021 nutze ich die Esshilfe „Obi”. Das ist ein kleiner, vom Rollstuhl unabhängiger Ess-Roboter. Damit kann ich selbstständig Speisen aufnehmen, zum Mund führen und in meiner eigenen Geschwindigkeit essen.
Außerdem können wir dank Smarthome vieles einfach über Alexa und Google steuern. Zum Beispiel Lampen, Radio, Fernseher, Türöffner.
MOBITIPP: Zum Abschluss: Welche drei barrierefreien Orte in Stuttgart können Sie Stadtbesuchern empfehlen?
Kerstin Schöck: Meine Favoriten sind der Fernsehturm Stuttgart (https://www.fernsehturm-stuttgart.de), das Theaterhaus Stuttgart (www.theaterhaus.com) und das Mercedes-Benz-Museum (www.mercedes-benz-classic.com).
MOBITIPP: Frau Schöck, vielen Dank für das Gespräch.