Raul Krauthausen: „Die junge Generation macht es richtig – sie wird laut”

Reichweite alleine sei aber nicht genug – die Politik müsse Inklusion auch voranbringen.

Raul Krauthausen, einer der bekanntesten Aktivisten für Inklusion und Barrierefreiheit in Deutschland, unterstützt die jüngeren Menschen mit Behinderung, die ihre Bedürfnisse selbstbewusst äußern und Veränderungen fordern. Weil die Themen behinderter Menschen bisher zu wenig Gehör finden, begreife die Gesellschaft sie als Themen „der Anderen“. Er selbst denkt inzwischen darüber nach, ob eine größere Radikalität helfen würde.
Porträt von Raul Krauthausen
© Anna Spindelndreier / Gesellschaftsbilder.de
Raul Krauthausen

MOBITIPP: Zunächst einmal: Wie geht es Ihnen, Herr Krauthausen? Sie wurden Mitte des Jahres im Rollstuhl sitzend auf einem Zebrastreifen von einem Auto angefahren – mit lebensbedrohlichen Folgen. Inwieweit sind Sie inzwischen in den Alltag und in den Beruf zurückgekehrt?

Raul Krauthausen: Danke der Nachfrage. Mir geht es besser und ich bin auch auf der Arbeit wieder in vollem Umfang zurück. Ein paar Folgeschäden sind leider geblieben, sowie Gehörverlust auf einem Ohr, aber ansonsten geht es mir gut.

MOBITIPP: Was hat Sie motiviert, sich über Ihre persönlichen Interessen hinaus für andere Menschen zu engagieren?

Raul Krauthausen: Eigentlich habe ich lange versucht, mich nicht zu viel mit behinderten Menschen zu befassen. Es reichte ja schließlich, selbst behindert zu sein. Das ging zunächst eigentlich einigermaßen gut, da ich auf eine Regelschule ging und da auch fast das einzige behinderte Kind war. Ich hatte fast ausschließlich nicht-behinderte Freund*innen und geglaubt, dass das ein Qualitätsmerkmal und erstrebenswert wäre.

Aber eigentlich war es eine Art Schutzreflex, weil ich mich selbst noch nicht wirklich akzeptiert hatte. Da spielt dann auch Scham eine große Rolle und das Bedürfnis, sich von dem Merkmal „Behinderung” abzugrenzen. Ich habe erst beim Radio gearbeitet und verschiedene Dinge studiert. Aber nach und nach kam ich dann immer mehr in Berührung mit anderen behinderten Menschen und habe mehr über den Tellerrand meiner eigenen Behinderung geblickt. Und als ich nicht mehr wegsehen wollte, wollte ich auch aktiv etwas tun, um für Barrierefreiheit und Inklusion zu kämpfen.

MOBITIPP: Heute kann nahezu jeder Mensch auf den Kanälen der sozialen Medien wie Facebook, LinkedIn, TikTok, YouTube oder auf einer eigenen Webseite öffentliche Aufmerksamkeit auf sich und seine Anliegen ziehen. Macht das den Aktivismus für die Rechte von Menschen mit Behinderung einfacher?

Raul Krauthausen: Ich finde, dass schon viel gewonnen ist, wenn nur ein Bruchteil der Aufmerksamkeit an behinderte Menschen geht. Denn viele Menschen ohne Behinderung kommen im Alltag gar nicht mit behinderten Menschen in Berührung. Im Internet haben wir dann natürlich das Bubble-Problem: What happens in a bubble stays in a bubble. Aber über das ein oder andere Video von behinderten Menschen stolpert man ja gelegentlich. Und da ist es gar nicht so wichtig, ob die Person wirklich aktivistisch unterwegs ist und aufklärt, oder ob sie ihr Ding macht – Musik, Comedy, Schauspiel, Politik, Sport, Action. Jedes bisschen Sichtbarkeit darüber, wie reich unsere Leben mit Behinderung sind, hilft schon, um das Stigma Behinderung zu bekämpfen.

Der zweite Aspekt ist aber, und das muss man auch ganz klar sagen, dass wir so viel Aktivismus ins Internet pulvern können, wie wir wollen. Aber wenn politisch nichts passiert, um Inklusion voranzubringen, dann bringt auch die größte Reichweite recht wenig.

MOBITIPP: Sie haben zusammen mit Benjamin Schwarz ein Buch über die „Kraft des konstruktiven Aktivismus“ geschrieben. Dafür haben Sie zum Beispiel mit Luisa Neubauer von Friday for Future gesprochen und mit Orry Mittenmayer, der auf die prekären Arbeitsbedingungen der Lieferkuriere aufmerksam machte. Wie schätzen Sie die Bereitschaft der jüngeren Generation ein, sich aus ihrer Komfortzone herauszubewegen und Verantwortung für andere zu übernehmen?

Raul Krauthausen: Ich habe den Eindruck, dass gerade eine Generation heranwächst, die nur eine Welt kennt, in der die globalen Krisen brenzlig sind. Sie kennt es nicht, dass wir schon seit 50 Jahren eine vage Idee davon haben, dass eine nicht zu greifende Katastrophe langsam heranrollt. Und man darf die psychischen Mechanismen nicht unterschätzen, die greifen, wenn man dieses drohende Unheil Jahr um Jahr verdrängen kann und es passiert recht wenig – noch. Wie der bekannte Frosch, der im immer heißer werdenden Kochtopf sitzt und er springt nicht raus. Er merkt nicht, dass das Wasser heißer – und dass es gefährlich wird.

Wir sind dieser Frosch und jetzt kommt die junge Generation, die nicht schon 30, 40, 50 Jahre in diesem langsam wärmer werdenden Topf sitzt. Die hält die Zehen rein und sagt: „Sag mal, spinnst du? Das hier ist gefährlich.” Aber wir zucken nur die Schultern und sagen: „Nee, das Wasser hier kennen wir schon seit Jahrzehnten. Das tut uns nichts.”

Die junge Generation macht es genau richtig. Die werden laut, die warnen, die versuchen, uns alle aus dem Topf zu ziehen. Das ist sensationell, das ist wichtig. Aber die Frage ist: Wieso weigern wir uns, uns retten zu lassen? Wieso lachen wir diese Kids aus und behaupten, sie hätten keine Ahnung oder sie sollen sich doch lieber mal Lösungen überlegen, anstatt nur zu warnen. Das ist arrogant und das ist brandgefährlich.

MOBITIPP: Welche Veränderungen hinsichtlich der Rechte und der Lebensumstände von Menschen mit Behinderungen finden Sie ermutigend? Welche sind frustrierend oder sogar ein schwerer Rückschlag?

Raul Krauthausen: In Berlin werden bald unzählige neue Wohnungen gebaut, doch nur ein kleiner Prozentsatz davon wird barrierefrei sein. Das frustriert mich. Barrierefreiheit ist so ein wichtiger Bestandteil von gesellschaftlicher Inklusion. Es gibt ohnehin kaum bezahlbaren, barrierefreien Wohnraum. Allein darum sollte ein Großteil der Wohnungen den Richtlinien für Barrierefreiheit entsprechen. Aber darum geht es nicht ausschließlich. Es geht darum, dass möglichst ALLES barrierefrei für alle sein sollte, sodass ich mich, wie jede*r andere auch, am gesellschaftlichen Leben beteiligen kann. Und dazu zählt auch, Freund*innen besuchen, zur Arbeit, ins Museum, einkaufen, zum (Fach-)Arzt gehen etc. Alles andere ist eben exklusiv.

Ermutigend finde ich, dass mit Constantin Grosch jemand „von uns” direkt in den niedersächsischen Landtag gewählt worden ist und dort sicher nicht mit seiner Meinung und mit seinen Vorschlägen hinter dem Berg halten wird.

MOBITIPP: Für Ihren Vortrag beim diesjährigen Forum Products & News@Rehacare powered by MOBITIPP haben Sie sich das Thema „Begegnungen” ausgesucht. Ihre These ist: Eine selbstverständliche Integration von Menschen mit Behinderungen in die Gesellschaft bewirkt in den Köpfen der Menschen mehr, als dies Aufklärung leisten kann. Warum geht die Entwicklung so zäh voran?

Raul Krauthausen: Ich glaube, es gibt gesellschaftliche Themen, die nur dann von der Politik wirklich ernst genommen werden, wenn die Stimme der Bevölkerung laut genug ist und nicht mehr ignoriert werden kann. Die Stimme der Behindertenbewegung ist noch sehr schwach. Außerhalb unserer Bubble kennt kaum jemand unsere Belange, denn nur wenige kommen überhaupt mit behinderten Menschen in Berührung – und das, obwohl wir mit zehn Prozent der Bevölkerung die größte Minderheit darstellen.

Klar ist es dann für die Mehrheitsgesellschaft einfach, Behinderung als ein Thema der Anderen abzutun und sich nicht damit auseinanderzusetzen. Dabei ist es sogar sehr wahrscheinlich, dass man einmal selbst dazugehört und sich spätestens dann über behindertenfreundliche Strukturen und Barrierefreiheit freuen würde.

Aber da wir eben kein Gehör finden und unsere Themen nicht ernst genommen werden, sind die Zustände für behinderte Menschen äußerst prekär, sogar teilweise menschenrechtswidrig. Unser Recht ist Teilhabe in allen Bereichen, aber wir werden mit allen Mitteln an dieser Teilhabe gehindert: Wir werden in Förderschulen gesteckt, in Werkstätten für einen Hungerlohn ausgebeutet und in Behindertenheimen einem System ausgeliefert, das Gewalttaten begünstigt.

Darum frage ich mich, ob es uns helfen würde, eine größere Radikalität an den Tag zu legen, um den Druck auf die Politik zu erhöhen. Denn so, wie es ist, kann es nicht weitergehen.

MOBITIPP: Vielen Dank für das Gespräch, Herr Krauthausen.

 

Mehr über Raul Krauthausen erfahrt Ihr auf seiner Webseite www.raul.de.

 

Wer sich für Aktivismus interessiert, bekommt im Buch von Raul Krauthausen und Benjamin Schwarz jede Menge Informationen und Anregungen: Wie kann ich was bewegen? Die Kraft des konstruktiven Aktivismus. Edition Körber: https://koerber-stiftung.de/edition/buchprogramm/wie-kann-ich-was-bewegen/

(Text: Brigitte Muschiol)

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