Rechtsanwalt Christian Au: Wo Corona Fristen und Pflichten beeinflusst

Vor allem im Pflegebereich gibt es einiges zu beachten. So fallen vermehrt Einstufungen in falsche Pflegegrade auf.

Manche coronabedingte Regelung, die für Menschen mit Behinderung interessant sein kann, läuft nach heutigem Stand (25.9.2020) in diesen Tagen aus. Da Fachleute aber in Anbetracht steigender Infektionszahlen mit einer Verlängerung bestehender Regelungen rechnen, haben wir den Buxtehuder Rechtsanwalt Christian Au gefragt, welche Erfahrungen er in den letzten Monaten mit coronaspezifischen juristischen Besonderheiten gemacht hat.
Porträt eines Mannes mit weißem Hemd und schwarzer Jacke
© privat
Rechtsanwalt im Rollstuhl Christian Au
Christian Au, Rechtsanwalt und Fachanwalt für Sozialrecht.

MOBITIPP: Corona hat uns noch immer im Griff. Was haben Sie und Ihre Klienten in den letzten Monaten erlebt? Ziehen sich gerichtliche Entscheidungen länger hin, etwa weil Mitarbeiter der Justiz im Homeoffice waren?

Christian Au: Für meine Kanzlei kann ich nicht bestätigen, dass sich Verfahren länger hinziehen als bisher. Allerdings war die Einhaltung von Fristen in sozialrechtlichen Verfahren  schon immer ein Schwachpunkt. Im Sozialgesetzbuch IX gibt es zwar verschiedene Fristen zur Teilhabe. Aber wenn diese von Kostenträgern nicht eingehalten werden, passiert in der Regel auch nichts. Ich bin da, was Fristen angeht, sehr ernüchtert.

Klienten müssen jedoch ihre Fristen, zum Beispiel eine Klagefrist, weiterhin zwingend beachten. Wenn man sie nicht einhält, ist gleich das Rechtsmittel, zum Beispiel die Klage, weg. Die einzige wesentliche coronabedingte Ausnahme bei den Fristen gibt es im Sozialgesetzbuch XI, dem Recht der Pflegeversicherung.

MOBITIPP: Was bedeutet sie?

Christian Au: Bisher hatte die Pflegekasse fünf Wochen beziehungsweise 25 Werktage Zeit, über einen Antrag auf Pflegeleistung zu entscheiden. Paragraf 147 SGB XI setzt diese Frist außer Kraft und gibt der Kasse mehr Zeit, eine Entscheidung zu treffen.

MOBITIPP: Das geht aber zulasten der Betroffenen, die noch länger warten müssen.

Christian Au: Auch zugunsten der Betroffenen sind Fristen vorübergehend außer Kraft gesetzt worden: Je nach Pflegegrad müssen Bezieher von Pflegegeld üblicherweise alle drei oder sechs Monate einen persönlichen Beratungseinsatz bei einem Pflegedienst abrufen, damit sich die Mitarbeiter ein aktuelles Bild machen können und überprüfen können, ob die Leistungen zu Recht bezogen werden oder ob sich etwas verändert hat.

Diese Regelung ist derzeit vorerst bis 30. September aufgehoben. Bis zu diesem Zeitpunkt kann es einem Betroffenen nicht zum Nachteil werden, wenn er den Pflegedienst etwa aus Sorge vor einer Infektion nicht abruft, obwohl das turnusgemäß anstehen würde. Vieles spricht dafür, dass die Regelung noch verlängert wird. Sollte sie aufgehoben werden – am 30. September oder später, – ist dieser Termin aber nachzuholen.

MOBITIPP: Wie klappt die Pflegegrad-Begutachtung durch den Medizinischen Dienst der Krankenkassen MDK? Können die telefonischen Interviews ein adäquater Ersatz für die persönlichen Begutachtungen zu Hause sein?

Christian Au: Wir haben verstärkt den Eindruck, dass zwar der Ablauf rechtmäßig ist, das Ergebnis aber häufig nicht stimmt. Das erfahren wir, weil wir viele Eltern behinderter Kinder in Pflegeverfahren für ihre Kinder vertreten. Da hat der MDK Anträge nach telefonischer Einstufung ganz abgelehnt oder Betroffene in zu niedrige Pflegegrade eingestuft. Gehen wir daraufhin für unsere Mandanten in Widerspruch, fallen die Entscheidungen im Widerspruchsverfahren oft ganz anders aus. Da gewinnen wir jetzt besonders oft.

Dabei hat der Medizinische Dienst der Krankenkassen MDK auch wieder nur nach vorhandener Aktenlage entscheiden können und aufgrund unserer Ausführungen. Vor diesem Hintergrund ist es eigentlich unverständlich, dass der MDK in der aktuellen Lage keine vorläufigen Bewilligungen ausspricht und die betreffenden Fälle später noch einmal von Amts wegen persönlich überprüft. Das wäre in jedem Fall verwaltungsvereinfachend und für die Betroffenen nervenschonender.

MOBITIPP: Wie groß sind denn die Differenzen, die Sie aufgrund Ihrer juristischen Argumentationshilfe erreichen konnten?

Christian Au: Wir hatten schon den Fall, dass der Pflegegrad eines Kindes von Stufe 2 auf Stufe 4 hochgesetzt wurde.

MOBITIPP: Haben Sie einen Tipp für Betroffene, die sich auf eine telefonische Einstufung vorbereiten wollen, aber keinen Rechtsanwalt in Anspruch nehmen können?

Christian Au: Es ist ganz entscheidend, dass den Mitarbeitern der Pflegekasse und des MDK für das Telefongespräch umfassende und ganz aktuelle medizinische Unterlagen vorliegen. Wenn ein orthopädischer Befund ein oder zwei Jahre alt ist, kann ein Gutachter vielleicht noch bei einem persönlichen Termin einschätzen, ob ein älterer Befund noch die Realität widerspiegelt. Am Telefon bleibt ihm nur die Möglichkeit, die Menschen nach Aktenlage und mündlicher Aussage einzuschätzen. Das in Übereinstimmung zu bringen, ist objektiv gesehen nicht einfach.

MOBITIPP: Worin liegt der große Vorteil bei einer persönlichen Begutachtung?

Christian Au: Vor Ort hat ein Begutachter viel mehr Anlässe nachzufragen und Hilfsbedarfe zu ermitteln. Das hat eine andere Forschungstiefe. Ein Betroffener, der am Telefon Ängste entwickelt und seine Interessen nicht gut vertreten kann, kann zu Hause mehr Sicherheit und Vertrauen gewinnen. Beide Verfahren sind im Grunde nicht vergleichbar, auch wenn der Ablauf eines Telefoninterviews formal korrekt sein mag.

MOBITIPP: Im Sozialgesetzbuch XI gibt es einen ganzen Abschnitt über Corona-Sonderregelungen bei der Pflegeversicherung. Was ist da besonders markant?

Christian Au: Paragraf 147 und die folgenden im SGB XI regeln eine ganze Reihe von Verfahrensänderungen oder Leistungen, die im Moment mit Corona zu tun haben. Im Paragraf 150a zum Beispiel geht es um den sogenannten Corona-Bonus für Mitarbeiter von Pflegediensten und Pflegeheimen. So bekommen Vollzeitbeschäftigte von Pflegediensten und Pflegeheimen zum Beispiel rund 1.000 Euro.

MOBITIPP: Schwerbehinderte Menschen, die ihre Assistenz selbst über das Arbeitgebermodell sicherstellen, dürfen ihren Mitarbeitern keinen Corona-Bonus zugutekommen lassen?

Christian Au: Nein, das ist nicht vorgesehen. Da stellt sich natürlich die Frage, ob diese Menschen in ihrer Funktion als Arbeitgeber nicht schlechter gestellt werden als die Assistenzdienste. Die Mitarbeiter auf der einen wie auf der anderen Seite leisten die gleiche Arbeit. Die einen, nämlich bei den Assistenzdiensten, werden belohnt. Die Assistenten dagegen, die über das Arbeitgebermodell bezahlt werden, gehen leer aus. Das verzerrt den Wettbewerb um Arbeitskräfte. Für die schwerbehinderten Arbeitgeber könnte es dadurch noch schwerer werden, motivierte Mitarbeiter zu finden und zu halten.

Deshalb gehen wir jetzt juristisch dagegen vor. Wir haben in unserer Kanzlei derzeit Fälle, an denen man die Problematik gut darstellen kann.

MOBITIPP: Inzwischen geben Sie wieder persönliche Fortbildungsseminare im Sozialrecht und nicht nur Online-Schulungen. Unter welchen Voraussetzungen finden diese Seminare statt und wer kann teilnehmen?

Christian Au: Die Zielgruppe und der Ablauf der Tagesseminare hängen vom jeweiligen Anbieter ab. Bei den Seminaren, die zum Beispiel über die Akademie für Recht laufen, kann sich jeder Interessent anmelden. Diese Veranstaltungen finden in der Regel in einem Hotel statt. Sehr viele meiner Seminare richten sich aber auch an Mitarbeiter der Eingliederungshilfe, also an Menschen, die für einen Landkreis arbeiten. Da schule ich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer vor Ort, häufig im Kreishaus.

Den Rahmen gibt der jeweilige Veranstalter vor. Auf jeden Fall gelten die üblichen AHA-Regeln: Abstand halten – Hygiene beachten – Alltagsmasken, also Mund-Nasen-Bedeckung, bis zum Platz. Aber das ist gelernt und im Grunde kein Thema mehr. Auf jeden Fall ist es eine große Freude, wieder persönlichen Kontakt zu meinen Seminarteilnehmerinnen und -teilnehmern zu haben.

MOBITIPP: Herr Au, vielen Dank für das Gespräch.

(Text: Birgit Bauer)

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