Sanitätshäuser: „Bitte nicht auf gut Glück kommen!"

Interview mit Alf Reuter, Präsident des Bundesinnungsverband für Orthopädie-Technik (BIV-OT)

Die Sanitätshäuser in Deutschland haben zwar bis auf wenige Ausnahmen geöffnet, dennoch ist die Verunsicherung von Menschen, die auf Hilfsmittel angewiesen sind, groß. In welchem Umfang ist eine Versorgung überhaupt möglich? Kann ich wie bisher einfach vorbeikommen? Gibt es vereinfachte Regeln? MOBITIPP fragte bei Alf Reuter, Präsident des Bundesinnungsverbandes für Orthopädie-Technik (BIV-OT) nach.
© BIV-OT / Zumbansen
Alf Reuter, Präsident des BIV-OT

MOBITIPP: Was bedeutet die aktuelle Situation für die Sanitätshäuser bzw. für die Kunden? Haben die Versorger einen Ermessensspielraum, inwieweit sie ihrem Versorgungsauftrag nachkommen wollen?

Alf Reuter: Die aktuelle Lage stellt die Sanitätshäuser vor enorme Herausforderungen. Sie zählen zu den systemrelevanten Betrieben, die für das Aufrechterhalten des Gesundheitssystems von elementarer Bedeutung sind. Auf der einen Seite versuchen sie mit aller Kraft, die Versorgung der Patienten und Kunden sicherzustellen. Auf der anderen Seite tun sie alles, um allen Widrigkeiten zum Trotz die betriebswirtschaftliche Sicherheit ihres Betriebes und damit die Lebensgrundlage ihrer Mitarbeiter aufrecht zu erhalten. Die teilweise dünner werdende Personaldecke, sowie der Mangel an Schutzkleidung und Desinfektionsmittel, die auf dem freien Markt kaum noch zu bekommen sind, machen die Versorgung schwierig.
Daher kann es dazu kommen, dass einzelne Sanitätshäuser schließen müssen, obwohl sie nach der geltenden Erlasslage öffnen dürften. Da Sanitätshäuser Handels- bzw. Handwerksbetriebe sind, können sie sich auch dazu entschließen, ihr Gewerbe zu schließen, wenn sie keine Möglichkeit sehen, ihr Sanitätshaus sinnvoll zu betreiben. Diese sind nach unserem Kenntnisstand aber die absolute Ausnahme.

MOBITIPP: Kann man als Kunde wie gewohnt zu den Öffnungszeiten kommen und gehen oder muss man andere Regeln beachten?

Alf Reuter: Diesbezüglich unterscheidet sich die Situation in den Sanitätshäusern nicht sehr von der im Supermarkt: Einige Sanitätshäuser haben ihre Öffnungszeiten zwar verringert. Sie sind aber dennoch auch ohne Terminvergabe für ihre Kunden da. In hygienischer Hinsicht sind natürlich die geltenden Abstandsregelungen zu beachten. Kunden erwarten hier Schutzvorkehrungen, wie sie sie von anderer Stelle kennen dürften wie Bodenmarkierungen für den einzuhaltenden Abstand, Plexiglasscheiben zum Schutz des Personals und aufgestellte Desinfektionsmittelspender. Einige Sanitätshäuser unterscheiden die Versorgungen allerdings sinnvollerweise nach deren Dringlichkeit. Im Moment steht alles unter dem Zeichen, persönliche Kontakte zu vermeiden. Dort wo sie nicht zu vermeiden sind, soll ein Mindestabstand von 1,5 Meter gehalten werden.

MOBITIPP: Mit welchen Vorkehrungen sollen nähere Kontakte vermieden werden?

Alf Reuter: Patienten müssen ihre Hilfsmittel nicht im Sanitätshaus oder dem orthopädie(schuh)technischen Betrieb persönlich abholen: Ist die Anpassung des Hilfsmittels vor Ort nicht zwingend nötig, sollten bis zum Ende der Corona-Epidemie Hilfsmittel per Post versendet werden.
Patienten können sich telefonisch oder per Video beraten lassen: Alle notwendigen Beratungen sowie Einweisungen in den Gebrauch der Hilfsmittel sollten bis zum 31. Mai 2020 möglichst telefonisch, per E-Mail, Video oder durch ähnliche digitale Medien erfolgen – natürlich nur soweit dies aufgrund der Art des Hilfsmittels vertretbar ist. So sind lebenserhaltende Systeme davon ausgenommen; diese sind weiterhin vor Ort zu erläutern und einzustellen. Patienten müssen nicht mehr persönlich vor Ort unterschreiben: Auf Unterschriften durch den Versicherten zum Beispiel auf die Empfangsbestätigung, Beratungsdokumentation oder den Lieferschein kann bei Versorgungen bis zum 31. Mai 2020 verzichtet werden.

MOBITIPP: Benötigt man immer ein Rezept bei der Erstversorgung und bei der Folgeversorgung?

Alf Reuter: Der Spitzenverband der gesetzlichen Krankenkassen hat dahingehend Empfehlungen an die Krankenkassen herausgegeben. Danach ist für eine Erstversorgung weiterhin ein Rezept erforderlich. Dieses kann aber nachgereicht werden, wenn es sich um nicht aufschiebbare (Erst-)Versorgungen handelt. Dadurch wird dem Umstand Rechnung getragen, dass Vertragsärzte sich derzeit ebenfalls im Ausnahmezustand befinden und direkte Kontakte mit ihren Patienten auf ein absolutes Minimum beschränken.
Auf eine Folgeverordnung wird bei zum Verbrauch bestimmten Hilfsmitteln wie Inkontinenzhilfen oder Stomaartikel verzichtet, sofern die Erstversorgung bereits von der Krankenkasse genehmigt oder Genehmigungsfreiheit vertraglich vereinbart wurde. Diese muss dann nicht nachgereicht werden.

MOBITIPP: Was ist, wenn die übliche Frist für die Einreichung zu knapp ist, weil es die persönlichen Umstände eine fristgerechte Einlösung nicht zulassen?

Alf Reuter: Auch hier hat der GKV Spitzenverband die ansonsten geltende Frist von 28 Kalendertagen, innerhalb derer die Versorgung grundsätzlich begonnen sein muss ausgesetzt. Die Rezepte behalten ihre Gültigkeit also darüber hinaus.

MOBITIPP: Kommen die Mitarbeiter noch immer zu ihren Kunden nach Hause?

Alf Reuter: Die Sanitätshäuser tun ihr Möglichstes, um auch die Versorgung im häuslichen Bereich sicherzustellen. Da es sich hierbei regelmäßig um Kunden aus der Risikogruppe handelt, muss hier ein deutliches Augenmerk darauf gelegt werden, diese zu schützen. Das erfordert immer Einzelentscheidungen vor Ort.

MOBITIPP: Wie kann man die Hygienebedingungen bzw. die Abstandsregelung bei einem Hausbesuch einhalten?

Alf Reuter: Hier kommt es maßgeblich auf die Art der Versorgung an. Die Mitarbeiter versuchen, so gut es geht, die Mindestabstände einzuhalten. Wo dies nicht möglich ist, wird mit Schutzausrüstung gearbeitet. Notfalls auch mit einem Ganzkörperanzug.

MOBITIPP: Kümmern die Sanitätshäuser sich momentan nur noch um Service und Wartung oder geht es auch um neue Versorgungen?

Alf Reuter: Es werden auch neue Versorgungen begonnen, soweit dies den Sanitätshäusern möglich ist. Versorgungen nach einer Operation oder nach einem Unfall dulden vielfach keinen Aufschub. Daher ist die Aufrechterhaltung der Versorgung durch Sanitätshäuser von so elementarer Bedeutung und sind die Sanitätshäuser von öffentlich-rechtlichen Schließungsanordnungen großflächig ausgenommen worden.

MOBITIPP: Wo können sich Betroffene über aktuelle Veränderungen, was die Sanitätshäuser betrifft, informieren?

Alf Reuter: Da die Sanitätshäuser die derzeitige Lage teils sehr unterschiedlich handhaben, sollte, wenn Informationsbedarf besteht, mit dem jeweiligen Sanitätshaus selbst Kontakt aufgenommen werden. Die Sanitätshäuser bitten dabei jedoch, möglichst nicht einfach „auf gut Glück“ vorbei zu kommen, sondern zunächst den telefonischen Kontakt zu suchen. Dabei kann abgeklärt werden, ob die gewünschte Versorgung derzeit überhaupt möglich und sinnvoll ist oder ob ein Aufschub derzeit die bessere Lösung wäre.

MOBITIPP: Herr Reuter, wir danken Ihnen für das Gespräch.

Der Bundesinnungsverband für Orthopädie-Technik (BIV-OT) vertritt als Spitzenverband des orthopädie-technischen Handwerks mehr als 2.500 Sanitätshäuser und orthopädie-technische Werkstätten mit etwa 40.000 Beschäftigten. Webseite: www.biv-ot.org

Empfehlungen des GKV-Spitzenverbandes, die zunächst bis 31. Mai 2020 gelten: https://biv-ot.org/news_und_politik/presseticker/index_ger.html?nid=1544

(Text: Volker Neumann)

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