Inklusion in der Schule – Chance oder Risiko?

Noch viel Potenzial bei der Umsetzung eines Menschenrechts

Obwohl die Rechtslage eindeutig ist, tut Deutschland sich schwer mit der Integration behinderter Kinder in den regulären Schulbetrieb. Die Bandbreite an Gründen ist groß und reicht von fachlich fundierten Argumenten bis zu gefühlten Wahrheiten. Eltern von behinderten Kindern bringt das in eine schwierige Lage, weil sie oft nur die Möglichkeit haben, die weniger schlechte Lösung zu wählen. Ein Überblick.
Schulklasse von schräg hinten mit einem Rollstuhlfahrer und einem Kind, das sich meldet
(c) Andi Weiland, gesellschaftsbilder.de
Inklusion in der Schule

Wer in Italien nach einer Förderschule für Kinder und Jugendliche mit Behinderung sucht, wird enttäuscht. Diese Bildungseinrichtungen gibt es dort nicht. In Italien lernen behinderte und nicht behinderte Schüler zusammen. Auch eine Ausbildung zum Förderschullehrer wird nicht angeboten. Wie kann das sein? In Italien wurden die Förderschulen bereits 1977 abgeschafft. Seitdem ist die gemeinsame Beschulung Normalität. Lediglich blinde und gehörlose Schülerinnen und Schüler besuchen spezielle Bildungseinrichtungen. Die Grundausbildung für Lehrerinnen und Lehrer enthält bereits umfassende sonderpädagogische Bestandteile. In Deutschland hingegen ist das Studium für Sonderpädagogik vom normalen Lehramtsstudium getrennt. Allein dieser Aspekt verstärkt das weitere Festhalten an alten, separierenden Bildungsmodellen.

Inklusion kommt vom lateinischen Wort „inclusio“. Es steht für „Einschluss“. Ausgehend von einer grundsätzlich heterogenen Gesellschaft bedeutet Inklusion, dass alle Menschen, so verschieden sie auch sind, dazugehören. Im Mittelpunkt einer inklusiven Gesellschaft steht die Akzeptanz der Unterschiedlichkeit. Vielfalt wird als Chance anerkannt.

Inklusion ist ein Menschenrecht

Am 26. März 2009 trat die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) in Deutschland in Kraft. Dieses Datum markiert einen Richtungswechsel für das deutsche Schulsystem, denn mit der Ratifizierung der UN-BRK muss allen Schülerinnen und Schülern der Zugang zur allgemeinbildenden Schule gewährt werden. Die getrennte Beschulung von Kindern und Jugendlichen mit und ohne besonderen Förderbedarf ist mit Artikel 24 der UN-BRK nicht vereinbar. Was heißt das für Eltern behinderter Kinder? Können sie jetzt jede Schule für ihr Kind wählen?

Grundsätzlich ja, doch so eindeutig das Recht auf den Zugang zur Bildung für Menschen mit Behinderungen auch geschrieben steht, so einfach ist es in der Realität leider nicht. Bisher ist es in Deutschland noch nicht flächendeckend gelungen, Inklusion als Menschenrecht vollständig umzusetzen und das Bewusstsein für die Chancen einer inklusiven Beschulung ausreichend zu entwickeln. Breite Teile der Bevölkerung, zahlreiche Pädagoginnen und Pädagogen sowie Entscheidungsträger vertreten die Meinung, dass die separate Beschulung in Sonder- und Förderschulen die bessere Lösung sei. Ein weiterer Aspekt ist, dass nicht alle Schulgebäude die baulichen Voraussetzungen für den gemeinsamen Unterricht bieten.

Wie sieht inklusive Beschulung in der Praxis aus?

Inklusiver Unterricht bedeutet:

  • Behinderte und nicht behinderte Kinder lernen gemeinsam.
  • Alle Kinder einer Klasse werden von der gleichen Lehrkraft unterrichtet.
  • Gibt es Schüler mit besonderem Förderbedarf, kann der Unterricht durch Sonderpädagogen zusätzlich unterstützt werden.
  • Bei Bedarf werden Schülerinnen und Schüler mit Beeinträchtigungen durch eine Assistenz (sogenannte Integrationshelfer) begleitet.
  • Der Inhalt des Unterrichts und die Lernziele werden an die Bedürfnisse und Fähigkeiten der Kinder angepasst. Das bedeutet, Schülerinnen und Schüler mit Lernschwierigkeiten erhalten einfachere Aufgaben, ihre schneller lernenden Klassenkameraden werden mit anspruchsvollen Aufgaben zusätzlich gefördert.
  • Die Schulgebäude sind barrierefrei zugänglich.

Die Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland hat die Veränderung der Bildungslandschaft hin zur inklusiven Bildung beschleunigt. Untersuchungen der Aktion Mensch zufolge lag die Inklusionsquote an allgemeinbildenden Schulen im Schuljahr 2008/09 noch bei 1,1 Prozent. Im Schuljahr 2016/17 konnte sie auf 2,8 Prozent gesteigert werden. Die Bedingungen in den einzelnen Bundesländern sind unterschiedlich, denn Bildung ist Ländersache. Bremen, Hamburg und Schleswig-Holstein gelten in Deutschland als Vorreiter für die inklusive Schule.

Vorteile inklusiver Bildung

  1. Potenzialentfaltung

Behinderte Kinder, die gemeinsam mit nicht behinderten Gleichaltrigen zur Schule gehen, erleben sich viel mehr als gleichberechtigter Teil der Gesellschaft, als es Schülerinnen und Schüler einer Förderschule tun. Sie können von ihren Mitschülern lernen und wachsen an den Herausforderungen. Bildungsexperten kommen immer wieder zu dem Schluss, dass bei inklusiver Bildung ein deutlicher Leistungszuwachs erzielt werden kann. Ebenso sollte man nicht übersehen, dass gerade die bildungsstärksten europäischen Länder die sind, in denen die inklusive Bildung weit vorangeschritten ist. In einer inklusiven Gesamtschule können Potenziale des Einzelnen besser entdeckt und gefördert werden. Als Grundsatz gilt, dass jedes Kind, ob mit oder ohne Behinderung, Stärken und Schwächen hat.

  1. Unterschiedlichkeit wird zur Normalität

Menschen sind verschieden, das gilt bereits in den ersten Lebensjahren. Einer ist groß, einer klein, einer stark, der andere schwächer, einer lernt schnell, der andere langsam. Wer schon in Kita und Schule mit dieser Vielfalt aufwächst, entwickelt mehr Toleranz gegenüber anderen Menschen.

  1. Bessere berufliche Chancen

Der Besuch einer Förderschule wird sowohl von den Schülerinnen und Schülern als auch von Arbeitgebern oft als Makel bewertet. Dies verbaut vielen jungen Menschen den Zugang zum ersten Arbeitsmarkt. Der Abschluss einer allgemeinbildenden Schule hingegen erleichtert den Weg über eine Berufsausbildung in ein selbstständiges, zufriedenes Leben.

Können Eltern die Schulform für ihr Kind nach Belieben wählen?

Nahezu alle Bundesländer haben ein Elternwahlrecht eingeführt. Das heißt, die Eltern können entscheiden, ob ihr Kind auf eine inklusive Gesamtschule oder eine Förderschule gehen soll. Allerdings hat dieses Wahlrecht einen Haken, denn nicht alle Schulgebäude haben die entsprechende behindertengerechte Ausstattung. Viele allgemeinbildende Schulen sind in einem miserablen baulichen Zustand und nicht barrierefrei. Lehrmaterialien stehen nicht grundsätzlich in leichter Sprache, Gebärdensprache und Brailleschrift zur Verfügung, sodass gemeinsamer Unterricht nicht vollständig realisiert werden kann. Eine zusätzliche Hürde ist die Vielzahl unbesetzter Lehrerstellen. Auch die Anzahl der vorhandenen Assistenzen reicht für flächendeckende inklusive Beschulung nicht aus. Diese Rahmenbedingungen bewirken, dass Eltern praktisch gezwungen sind, doch eine Förderschule für ihr Kind zu wählen.

Die Frage nach der optimalen Art der Beschulung lässt sich nicht pauschal für alle behinderten Kinder beantworten. Eltern sollten immer die individuellen Voraussetzungen und Bedürfnisse ihres Kindes im Blick haben. Schwerstmehrfach behinderte junge Menschen finden selbst in einer modernen inklusiven Schule oftmals nicht die geeigneten Bedingungen. Hier wird die Einlösung des Rechts auf inklusive Bildung im Wesentlichen auf die Eltern abgewälzt, obwohl dies eindeutig die Aufgabe der Politik wäre. Indem nicht ausreichend inklusive Regelschulen zur Verfügung stehen oder besser zur Verfügung gestellt werden, können die Eltern behinderter Kinder in vielen Fällen nicht die beste, sondern nur die am wenigsten schlechte auswählen.

 

Tipps für die Schulanmeldung

  1. Auswahl einer geeigneten Grundschule im Schulbezirk und Anmeldung, sobald das Kind schulpflichtig wird
  2. Rechtzeitige Kontaktaufnahme zur Schulleitung, um besondere Bedarfe des behinderten Kindes zu besprechen
  3. Die Schule leitet gegebenenfalls die Feststellung des individuellen Förderbedarfs ein. Es wird ein Gutachten erstellt und an die Eltern weitergeleitet. Förderbedarfe können festgestellt werden in den Bereichen:
  • Lernen
  • Hören
  • Sehen
  • motorische Entwicklung
  • ganzheitliche Entwicklung

Mit Unterstützung der Schulbehörde können Eltern die geeignete Schule für ihr Kind wählen. Zur Auswahl stehen:

  • Förderschulen, in denen ausschließlich Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf lernen.
  • Schwerpunkt- beziehungsweise Inklusionsschulen, in denen behinderte und nicht behinderte Kinder gemeinsam lernen. Sonderpädagogen und Assistenten unterstützen die Lehrkräfte.
  • Regelschulen ohne besondere behindertengerechte Ausstattung und sonderpädagogische Unterstützung.

Eltern, die fachlichen Rat bei der Wahl der Schulform suchen, können sich an ihre Stadt- oder Kreisverwaltung wenden. In den Schulämtern stehen erfahrene Mitarbeiter bereit. Zusätzlich gibt es in vielen Regionen spezielle Beratungsstellen für Eltern behinderter Kinder.

 

Positive Erfahrungen in anderen europäischen Ländern

In einer Förderschule können zwangsläufig die vielen Vorteile einer inklusiven Schule nicht zum Tragen kommen. Hinzu kommt, dass solche speziellen Schulen oft weit vom Wohnort der Kinder entfernt liegen und ihnen dadurch die Integration unter die Gleichaltrigen im heimischen Umfeld mindestens erschwert wird. Außerdem können viele Förderschulen kein ebenso differenziertes Lern- und Abschlussangebot machen, wie das in großen Regelschulen möglich ist. Andererseits gibt es Eltern, die den Besuch ihres behinderten Kindes auf einer nicht entsprechend eingerichteten Schule durchgesetzt, dafür aber auch zahlreiche Nachteile in Kauf genommen haben. Solange es darum geht, zum Beispiel hier und da eine provisorische Rampe zu installieren oder nur Klassenräume zu nutzen, die mit dem Rollstuhl erreichbar sind, lassen sich vorhandene Mängel überwinden und kaschieren. Überall dort, wo besonderer Betreuungsbedarf besteht, geht aber jeder Kompromiss meistens zulasten der Kinder.

Dass es auch anders geht, zeigen die vielen Beispiele aus anderen europäischen Ländern. Der Spanier Pablo Pineda etwa hat als erster Europäer mit Down-Syndrom einen Hochschulabschluss erlangt. Im Interview sagte er einmal: „Es ist keine Krankheit! Es ist eine Kondition, ein Zustand. So wie der eine blond ist, habe ich eben das Down-Syndrom.“ Pablo Pineda hat in Spanien eine allgemeinbildende Schule besucht. Er ist heute als Lehrer und Schauspieler erfolgreich. Sein Weg war voller Hürden, doch das Ergebnis zeigt, dass Inklusion in der Schule gelingen kann.

(Text: Sina Engel)

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