Keine Angst vor dem Rollstuhl

Plädoyer für ein oft verkanntes Hilfsmittel

Für die meisten Menschen ist es ein Schock, wenn sie plötzlich oder perspektivisch auf einen Rollstuhl angewiesen sind. Verständlich, denn damit einher gehen immer eine körperliche Einschränkung und eine dramatische Veränderung der Lebensumstände und -gewohnheiten. Doch die daraus resultierenden Nachteile dem ungewohnten Hilfsmittel zuzuschreiben, ist ein Fehler. Wer sich den Rollstuhl zum Freund macht, hat mehr vom Leben.
© Andi Weiland, Gesellschaftsbilder
Der Rollstuhl ist eine segensreiche Erfindung
Wer sich den Rollstuhl zum Freund macht, hat mehr vom Leben

Der Rollstuhl ist eine segensreiche Erfindung, die vielen Menschen mehr Lebensqualität beschert. Schon einfachste Modelle, wie die, die Katrin Rohde und ihr Team in einer kleinen Werkstatt in Burkina Faso zusammenbauen (www.sahel.de/ampo/einrichtungen/behindertenprojekte), helfen vielen Menschen zurück ins Leben. Man kann es in anderen Regionen der Welt gut sehen, in denen Menschen mit Mobilitätseinschränkungen keine Hilfsmittel bekommen: Sie fristen ein tristes Dasein und sind weitgehend von der Gesellschaft ausgeschlossen. Geschweige denn, dass sie sich konstruktiv einbringen könnten, in welcher Weise auch immer.

Bei uns ist die Versorgungslage zwar glücklicherweise deutlich besser, der Rollstuhl hat trotzdem einen denkbar schlechten Ruf. In ‚Was-wäre-wenn-Runden‘ unter nichtbehinderten Menschen ist eine beliebte Frage, was man wohl machen würde, müsste man fortan im Rollstuhl leben. Eine ebenso spontane wie beliebte Antwort ist, dass man sich dann lieber umbringen als so weiterleben würde. Auch sprachlich klingt der schlechte Ruf des Rollstuhls durch. Bei Journalisten, die sich nicht mit dem Thema auskennen (und die offenbar auch nicht gründlich recherchiert haben), sitzen Menschen nicht einfach nur im Rollstuhl, sie sind sogar an ihn gefesselt. Die Bilder dazu entstammen dann Datenbanken, in denen das ganze gefühlte Drama mit Fußgängern nachgestellt wird – und mit Rollstühlen, die bestenfalls benutzt werden, um Patienten im Krankenhaus vom Bett zum Labor zu schieben.

Der schlechte Ruf blockiert die Akzeptanz

Kein Wunder also, dass viele Menschen ein eher zwiespältiges Verhältnis zum Rollstuhl haben, wenn sie bisher keine aktiven oder passiven Erfahrungen damit gemacht haben. Woher sollten sie es auch besser wissen? Umso schwieriger wird es, wenn die eigenen körperlichen Fähigkeiten sich schleichend oder plötzlich so sehr einschränken, dass die Nutzung von Hilfsmitteln, vielleicht sogar eines Rollstuhls, unumgänglich wird.

Eine typische Reaktion ist die reflexartige Abwehr. „Ich bin doch nicht behindert“, lässt der 75-Jährige im Brustton der Überzeugung wissen, obwohl seine Parkinson-Erkrankungen es ihm kaum noch möglich macht, mehr als zehn Meter zu gehen. Alles, aber bloß nicht in den Rollstuhl! Deshalb bleiben viele Menschen lieber daheim auf dem Sofa sitzen und verzichten auf die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben und die Pflege ihrer persönlichen Kontakte. Selbst wenn die Nutzung eines Rollstuhls unvermeidbar ist (zum Beispiel bei Eintritt einer kompletten Querschnittlähmung) ist die Akzeptanz für das neue Hilfsmittel oft gering.

Es sei am Rande erwähnt, dass es auch das andere Extrem gibt. Menschen, die sich gerne und bereitwillig in den Rollstuhl setzen (oder andere Hilfsmittel nutzen), manchmal aus Bequemlichkeit, manchmal aber auch, um genau alles das, was dem Rollstuhl seinen schlechten Ruf einbringt, in Anspruch nehmen zu können: Mitleid, Zuwendung und Hilfe von anderen Menschen usw. Auch das ist natürlich fragwürdig und manchmal sogar krankhaft.

Klar bin ich dabei

Dass es auch anders geht, zeigt das Beispiel von David Lebuser (s. S. 96f). Er hat sich gefreut, als der Therapeut ihm einen Rollstuhl ans Bett geschoben hat, weil er endlich wieder selbstständig mobil sein konnte. Inzwischen ist David Weltmeister und Deutscher Meister im WCMX, einer waghalsigen Rollstuhlsportart im Skatepark. Das kann sicher nicht das Ziel eines jeden Neulings im Rollstuhl sein, aber David Lebusers Beispiel zeigt, dass es sich lohnt, die eigene Einstellung zum Rollstuhl zu überdenken und ihn als das anzunehmen, was er im Wortsinne ist: ein Hilfsmittel.

Helfen kann er aber nur dann optimal, wenn Nutzer und Rollstuhl eins werden. Menschen, denen das gelungen ist, kann man oft auf den ersten Blick erkennen. Sie scheinen mit ihrem Rollstuhl verwachsen zu sein und handeln nicht nach dem Motto ‚Ich weiß nicht, ob ich mitmachen kann, ich sitze ja im Rollstuhl‘, sondern handeln nach dem Leitbild ‚Klar bin ich dabei, das kriegen wir schon irgendwie hin‘. Manche von ihnen sind damit zu Berühmtheiten geworden, zumindest in der Behindertenszene. Die meisten haben damit aber einfach erreicht, dass sie trotz und mit Rollstuhl ein aktives und erfülltes Leben führen.

(Text: Volker Neumann)

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