Mehmet Karayigit: Über die Sichtbarkeit von liegend fahrenden Menschen

Der 40-Jährige lebt mit Glasknochen und wünscht sich eine verständnisvollere Umwelt.

Was wissen wir über das Leben und die Träume von Menschen, die auf Liegendversorgung angewiesen sind? Zu wenig, stellten wir in der Redaktion MOBITIPP fest, als wir Mehmet Karayigit in einem beeindruckenden Video sahen. Beim Interview lernten wir einen Menschen kennen, der zwischen der Angst vor Knochenbrüchen und der Lust, die Welt zu erkunden, ein weitgehend selbstbestimmtes Leben führt.
Mehmet Karayigit in seinem Rollstuhl liegend und Daumen hoch
(c) Volker Neumann
Mutmacher Mehmet Karayigit

MOBTIPP: Herr Karayigit, Mobilität ist für Menschen, die wie Sie etwa aufgrund einer Erkrankung nicht sitzen können, schwer herzustellen. Jetzt haben Sie ein Elektro-Rollbett mit einem innovativen Liegesystem und vielseitigen, leicht zu steuernden Funktionen bekommen. Waren Sie mit dem CoseatFly schon mal draußen unterwegs?

Mehmet Karayigit: Ich bin bereits damit gefahren und freue mich über die dazugewonnene Mobilität und die vielen anderen Vorteile, die sich mir jetzt bieten. Mein bisheriger E-Rollstuhl hatte zwar eine Liegefunktion, aber er war mehr als 20 Jahre alt. Da gibt es gar erforderlichen keine Ersatzteile mehr. Jetzt kann ich mich sogar ohne Begleitung auf der Straße fortbewegen. Nur mit dem Aufzug brauche ich noch Hilfe.

MOBTIPP: Wie viel Mobilität ist Ihnen außerhalb der eigenen vier Wände möglich?

Mehmet Karayigit: Ich bin ein- bis zweimal wöchentlich in der Innenstadt von Krefeld unterwegs, wo ich auch wohne. Ich treffe Freunde und Bekannte, trinke Kaffee und mache Besorgungen. Wo immer es geht, erledige ich meine Angelegenheit selbst. Ansonsten steht mir meine Mutter zur Seite.

MOBTIPP: Wie ist es für Sie, mit der Bahn oder dem Flugzeug zu reisen?

Mehmet Karayigit: Jemand wie ich überfordert die Organisationen und oft auch die Mitarbeiter. Da kann ich nur wenig Positives berichten. Bei der Bahn musste ich zweimal bei einem außerplanmäßigen Halt den Zug verlassen, da die Bahnhöfe nicht auf den Ausstieg eines Fahrgastes wie mich eingerichtet seien, wie es hieß.

Im Flieger wäre es wesentlich einfacher, wenn man im eigenen Rollstuhl fliegen könnte. Ich würde mir wünschen, dass die Fluggesellschaft in Zukunft zum Beispiel manche Flugzeuge dementsprechend umgestalten würden. Ich denke, dass sich das viele schwerbehinderte Menschen wünschen. Denn unter anderen Menschen hin- und hergetragen zu werden, ist nämlich nicht so angenehm. Jedenfalls nicht für mich.

MOBTIPP: Fliegen Sie gar nicht mehr?

Mehmet Karayigit: Manchmal geht es nicht anders. Zum Beispiel, wenn wir unsere Familie in der Türkei besuchen wollen. Dann buchen wir zwei Plätze nebeneinander. Ich liege im Schoß meiner Mutter und auf dem gebuchten Platz für mich. Diese Reisen sind bis zur letzten Minute nervenaufreibend und von ungewissem Ausgang. Einmal musste sogar der Pilot entscheiden, ob ich mitfliegen darf. Ich durfte, weil ich schon häufiger geflogen bin.

MOBTIPP: Sie haben türkische Wurzeln. Wann sind Sie nach Deutschland gekommen?

Mehmet Karayigit: Das war 1987 oder 1988. Ich war etwa sechs Jahre alt. Meine Mutter und ich waren zunächst bei meiner Tante in Hannover. Meine Schwester und ein Bruder sind später nachgekommen. Nach einigen Zwischenstationen sind wir nach Krefeld gezogen. Die erste Zeit in Deutschland war ich häufig in Krankenhäusern, wurde auch operiert. Man wollte mir helfen. Eine große Verbesserung konnte aber nicht erzielt werden.

MOBTIPP: Was haben Sie in der Schulzeit erlebt?

Mehmet Karayigit: Ich kam zunächst in Krefeld und danach in Aachen in eine Schule für Kinder mit Körperbehinderung. Die deutsche Sprache habe ich sehr schnell gelernt. Später wechselte ich in eine Schule bei Bonn für Kinder mit und ohne Einschränkungen. Dort war ich durchaus mit harschen Reaktionen, Blicken und Bemerkungen konfrontiert.

Ich bin deshalb sehr für inklusive Schulen. Die Menschen gucken ja, weil sie kaum Menschen mit einer Behinderung persönlich kennen. Für liegend fahrende Menschen gilt das in besonderem Maße. Sie sind so gut wie nie in der Öffentlichkeit sichtbar. Wenn die Begegnung mit behinderten Menschen normal werden würden, gäbe es viel weniger Ausgrenzung.

MOBTIPP: Wie erleben Sie es heute, wenn Sie angestarrt werden oder verletzende Kommentare kommen?

Mehmet Karayigit: Heute kann ich damit umgehen. Das Verhalten von Kindern verletzt mich nicht mehr. Sie können die Wirkung nicht ermessen. Wenn Erwachsene mich mustern und Bemerkungen wie „kleiner Mann“ machen, versuche ich, dies an mir vorbeiziehen zu lassen. Sie kennen mich ja nicht und wissen es nicht besser. Das gelingt mal mehr, mal weniger gut.

MOBTIPP: Wie leben Sie heute?

Mehmet Karayigit: Ich teile mit meiner Mutter eine Wohnung. Sie managt den Haushalt und sorgt für ein gemütliches Zuhause. Ich wiederum versuche, sie nicht unnötig zu belasten.

MOBTIPP: Haben Sie keine Assistenz?

Mehmet Karayigit: Bis jetzt habe ich noch keine Assistenz benötigt. Falls das in Zukunft mal nötig ist, würde ich sie auch in Anspruch nehmen. Grundsätzlich fällt es mir aber schwer, mich fremden Personen anzuvertrauen. Damit habe ich bisher jedenfalls keine besonders guten Erfahrungen gemacht. Manche Menschen gaben in bestimmten Situationen vor, Fachwissen zu haben. Als es darauf ankam, stellte sich heraus, dass sie sich doch nicht mit der Glasknochenkrankheit auskennen und dass sie nicht wussten, welche gravierenden Folgen ein falscher oder unvorsichtiger Umgang mit dem Körper nach sich ziehen kann.

Im Übrigen kennen sich in der Regel nur sehr wenige Fachkräfte und Therapeuten mit der Glasknochenkrankheit aus. Das ist ein echtes Problem.

MOBTIPP: Woher beziehen Sie die Kraft für Ihre positive Lebenseinstellung?

Mehmet Karayigit: 2006 ist mein Bruder Ali plötzlich und unerwartet verstorben. Er war bis dahin meine engste Bezugsperson. Sein Tod stellte alles in den Schatten, was ich bisher schon an Schmerz und Leid erlebt hatte. Ich habe viele Jahre gebraucht, um mit diesem Verlust einigermaßen klarzukommen.

Aber diese Erfahrung hat mir auch meine Stärke bewusst gemacht. Ich habe wieder ins Leben zurückgefunden. Ich sage mir: Eigentlich kann mir kaum noch etwas Schlimmeres passieren und selbst das habe ich überlebt. Diese Erkenntnis hat mir ermöglicht, nach vorne zu schauen.

Menschen, die ohne besonderen Grund mit dem Leben unzufrieden sind, wundern sich manchmal über meine positive Lebenseinstellung. Aber ich sage ihnen dann: Du kannst sehen, hören, laufen. Das ist so viel, was Du vom Leben bekommen hast. Da kann man sich doch gar nicht mehr beklagen. Ich würde alles geben, wenn ich einmal laufen oder stehen könnte.

Wenn die Menschen wüssten, wie hart es andere getroffen hat und wie schwer es ihre Familien haben, wären sie dankbarer und großzügiger.

MOBTIPP: Wenn Sie einen Wunsch frei hätten: Was stünde ganz oben auf Ihrer Liste?

Mehmet Karayigit: Ich würde sehr gerne den Führerschein machen und ein eigenes Auto haben. Dann könnte ich öfter nach Köln fahren und kleine Ausflüge machen. Ob das alles überhaupt machbar ist, weiß ich allerdings nicht. Was die technischen Lösungen, die Kosten und Bürokratie betrifft, könnte ich so ein Projekt gar nicht alleine stemmen. Dazu bräuchte ich Ratgeber. Krankheitsbedingt kann ich nicht arbeiten; deshalb schätze ich meine Chancen als sehr gering. Das wird wohl ein Traum bleiben.

MOBTIPP: Herr Karayigit, vielen Dank für das Gespräch!

 

Hier ist der Link zum Video, das uns auf Mehmet aufmerksam gemacht hat: https://youtu.be/cqb9J_vdc2U

(Text: Brigitte Muschiol)

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