Roll on: Wie Schweizer Idealisten den Rollstuhlmarkt revolutionieren wollen

Das Open-Source-Projekt „Rollchair“ will die Rollstuhlversorgung weltweit für alle Menschen vereinfachen und erschwinglich machen

Was 2014 mit der Idee eines multifunktionalen Rollchairs begann, hat sich inzwischen zu einem breit angelegten Projekt entwickelt: Der Schweizer Verein Roll on um seinen Gründer Stefan Wäfler stellt jetzt sein eigenes Know-how allen Interessierten kostenfrei auf einer globalen Internet-Plattform zur Verfügung. Ziel ist, die unkonventionelle Weiterentwicklung und Produktion von alltagstauglichen Fortbewegungsmitteln für Menschen mit Behinderung in aller Welt voranzubringen.
© Stefan Wäfler, Verein Roll on/ Schweiz
Open Source-Projekt Rollchair
Stefan Wäfler (li.) und Mitstreiter Daniel Gerber (4.v.l.) vom Verein Roll on, zwei Studenten und Dozent Stefan Kobler (re.) von der FHNW stellen den Rollchair vor

Mit dem Rollstuhlmarkt befasste sich Stefan Wäfler aus Spiez im Berner Oberland erstmals 2014 ausgiebig. Der Anstoß dazu kam von einem Kollegen des Zweiradmechanikers, der als Instandhaltungsfachmannn beim Technologiekonzern Ruag in Thun arbeitet. Daniel Kägi, noch heute ein Verbündeter Wäflers, wollte einen coolen Rollstuhl für sein Patenkind bauen. Aus der Beschäftigung mit dem Thema entwickelte sich die Vision eines kostengünstigen, vielseitigen Rollchairs: ein Rollstuhl zum Fahren im Sitzen, Liegen und Stehen. „Er sollte weltweit Menschen zugutekommen, die die üblichen Marktpreise für solche Hilfsmittel nicht bezahlen können“, sagt Stefan Wäfler.

Vielversprechend in der Sackgasse

2016 gründete der Schweizer mit dem harten Kern seiner Unterstützer den Verein Roll on. Doch schon bald kam das Vorhaben nicht mehr richtig voran. „Ursprünglich wollten wir den konventionellen wirtschaftlichen Weg gehen, um unser Vorhaben finanziell stemmen zu können,“ sagt Stefan Wäfler. „Doch dieser Weg erwies sich als viel zu lang für uns. Wir waren mit Leidenschaft dabei, hatten aber auch unsere Jobs und Familie.“ Das Projekt, obwohl mit zahllosen digitalen Konstruktionsstudien, Bauplänen und erfolgversprechenden technischen Visualisierungen schon weit gediehen und von Experten positiv beurteilt, schien zu scheitern.

© Stefan Wäfler, Verein Roll on/ Schweiz

Bis zum Corona-Jahr 2020. Da holte der 36-Jährige den „Rollchair” aus dem Dornröschenschlaf. Beim Sichten der bisherigen Pläne erkannte der bekennende Tüftler, dass sich aus den Konstruktionen mit einfachen Mitteln ein mechanischer Rollstuhl bauen ließe, der zum Beispiel in Entwicklungsländern kostengünstig hergestellt und eingesetzt werden könnte. Daraus entwickelte sich ein komplett neuer Ansatz für ein weiteres Vorgehen.

Das Team öffnete sich für ein umfassenderes Ziel. Es geht nun nicht mehr nur um die Weiterentwicklung des bestehenden Rollchairs, sondern auch um Inspirationen für noch ungeahnte Innovationen im Rollstuhlmarkt. „Die Krankheitsbilder von Menschen mit Behinderungen sind so individuell, dass es nicht genug Innovationen geben kann, um den unterschiedlichen Bedürfnissen gerecht werden zu können“, sagt Stefan Wäfler.

Zweiter Anlauf: Open Source

So entstand die Idee für die Open-Source-Plattform „Rollchair” im Internet. Open-Source-Projekte nutzen das Schwarmwissen: Jeder kann einen Beitrag leisten und der Allgemeinheit frei zugänglich machen, in der Regel kostenlos. Aus den einzelnen Beiträgen entsteht dann das große Ganze, das mehr als die Summe der Einzelbeiträge ist. Das für Nutzer kostenfreie Bildbearbeitungsprogramm Gimp ist beispielsweise so entstanden.

Der Verein Roll on stellt auf der Plattform Rollchair die Idee, Erfindung und Patentschrift weltweit, lizenz- und kostenlos zur Nutzung und gemeinschaftlichen Weiterentwicklung zur Verfügung. Als Starter-Set („Boilerplate“) erhalten interessierte Erfinder, Tüftler, Designer, Entwickler die bestehenden Baupläne, Konstruktionsprinzipien, Ideenskizzen und Artwork an die Hand. Jeder, der damit konstruktiv im Sinne der Erfinder arbeiten will, könne gern darauf zurückgreifen, sagt Stefan Wäfler. Das gelte auch für Hersteller und Start-ups: „Vorrangig ist für uns, dass gute Ideen vom virtuellen Raum in die Welt zu den Menschen kommen.“

Kooperationen mit Hochschulen

Wichtige Partner für das Roll on-Team sind die Hochschulen. So sind bereits mehrere kleinere studentische Arbeiten und Projekte entstanden. Deren Ergebnisse wurden zum Teil wieder auf der Rollchair-Ideenplattform der Allgemeinheit zur Verfügung gestellt (s. Link unten). Die ETH Zürich schaltete „Rollchair“ auf einer globalen Plattform auf, die Teams weltweite Zusammenarbeit ermöglicht. Die Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW) stellte in einer studentischen Arbeit ein erstes Funktionsmodell eines flexiblen Rollstuhls her und unterstützt Roll on durch eine Crowdfunding-Aktion, die noch bis 8. Dezember 2022 läuft.

Weltweite Sichtbarkeit für die Rollchair-Community zu schaffen, ist nun eine neue Aufgabe, die sich aus dem Weg ins Internet ergeben hat. Eine Ausschreibung auf der Plattform Sirop International ermöglichte es, die Rollchair-Vision Studierenden und Dozenten weltweit bekannt zu machen. Die bisherigen aktiven Mitglieder von Rollchair jedenfalls stammen aus mehreren Kontinenten und kommen zum Beispiel aus Deutschland, Übersee und Indien.

Mehr Informationen gibt es unter folgenden Links:

Computeranimation des Rollchairs: https://www.youtube.com/watch?v=EjcQPpmqEX8&t=44s

Ideenplattform zur Inspiration: https://www.rollchair.com/portfolio/mobility-ideas

Crowdfunding-Aktion (noch bis 8. Dezember 2022): https://www.lokalhelden.ch/rollon

(Text: Brigitte Muschiol)

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