Stefan Keller: „Vergessen Sie das mit dem Adrenalin!”

Der Schweizer nutzt jede Gelegenheit zum Gleitschirmfliegen und verhilft als Fluglehrer gelegentlich auch anderen Rollstuhlfahrern zu einzigartigen Lebenserfahrungen.

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Wenn Stefan Keller über das Gleitschirmfliegen spricht, kann es philosophisch werden. Denn die Fliegerei ist so viel mehr als ein Sport für ihn. Dabei ist er im Juni 2013 während eines Flugs abgestürzt und sitzt seitdem im Rollstuhl. Der Fliegerei fühlt sich der 56-Jährige noch mehr verbunden als zuvor. Er übernahm es sogar, einer schwerstbehinderten jungen Frau mit Atemgerät den Traum vom Fliegen zu erfüllen.
© Stefan Keller
Gleitschirmfliegen als Glückserlebnis

MOBITIPP: Herr Keller, wann sind Sie das erste Mal mit dem Gleitschirm geflogen?

Stefan Keller: Fliegen und die Fliegerei bestimmen schon seit meiner frühesten Kindheit mein Leben. Mit dem Gleitschirm bin ich das erste Mal vor etwa zwanzig Jahren geflogen. Seither habe ich keine Gelegenheit mehr ausgelassen, um in die Luft zu kommen. Wenn ich fliege, bin ich glücklich.

MOBITIPP: Wie hat sich das Gleitschirmfliegen bei Ihnen entwickelt?

Stefan Keller: 2007 habe ich meine Fluso Gleitschirm-Schule in Solothurn gegründet. 2017 habe ich sie an einen jüngeren Fluglehrer übergeben. Er bietet auch Tandemflüge und Ausbildungen für Rollstuhlfahrer und für Fußgänger an. Ab und zu arbeite ich noch tageweise als Fluglehrer in verschiedenen Flugschulen. Ansonsten nutze ich den Gleitschirm vor allem, um Lebensfreude pur zu genießen. Beruflich bin ich heute vor allem als Systemischer Coach und Berater tätig.

MOBITIPP: Wie ist Ihr Unfall denn passiert?

Stefan Keller: Das war Ende Juni 2013 im Berner Jura. Bei einem Flug kam es zu einer außergewöhnlichen thermischen Turbulenz. Mein Schirm klappte nach vorne unten und öffnete sich nicht mehr. Ich stürzte aus über 20 Metern Höhe zu Boden. Seitdem lebe ich mit einer inkompletten Querschnittlähmung. Etwa ein Jahr nach dem Unfall bin ich wieder geflogen.

MOBITIPP: Was fasziniert Sie am Gleitschirmfliegen? Ist es das Adrenalin?

Stefan Keller: Vergessen Sie das mit dem Adrenalin! Gleitschirmfliegen ist keine Adrenalinsportart. Es ist genau das Gegenteil. Gleitschirmfliegen ist eine Endorphinsportart. Da werden Glückshormone ausgeschüttet.

MOBITIPP: Wie ist das zu erklären?

© Stefan Keller

Stefan Keller: Wir sind nicht motorisiert, sondern fliegen mit einem wesentlichen Lebensfaktor, nämlich mit der Schwerkraft. Wenn wir im Aufwind steigen, sind wir im Himmel. Gleichzeitig folgt der Schirm der Schwerkraft. Diese erdet uns, ohne dass wir etwas dazu beitragen müssen. Fliegen ist also in erster Linie ein spannendes Schwerkrafterlebnis. Dabei spürt man die Rückverbindung zu unserem Planet Erde, die den meisten Menschen verloren gegangen ist. Diese Verbindung wieder zu spüren, macht glücklich. Sie ist eine Annäherung an den Urzustand des Menschseins.
Rollstuhlfahrer kennen dieses Gefühl vielleicht, wenn der Rollstuhl leicht bergab rollt und man sich dabei sicher fühlt. Diese natürliche Erdung löst ein Glücksgefühl aus. Da ist man im Flow, und zwar in einer Art und Weise, die man als Fußgänger nicht kennt. Sie stemmen sich im aufrechten Gang ja der Schwerkraft entgegen.

MOBITIPP: Ist das Gefühl des Fliegens überwältigend?

Stefan Keller: Fliegen hat etwas Überwältigendes. Aber nicht im Sinne eines ganz neuartigen oder einzigartigen Gefühls. Das wird oft falsch verstanden. Es fühlt sich eher an, wie wenn man nach einer tollen Reise wieder nach Hause kommt. Ein schönes, altes Gefühl. Es ist eher das Urvertraute. Ein Aufgehobensein in der Welt.

MOBITIPP: Kann jeder Mensch mit dem Gleitschirm fliegen, der das gerne erleben möchte?

Stefan Keller: Ich denke, es geht fast alles – sofern man den Aufwand und die Kosten dafür nicht scheut. Ich bin schon mit einer jungen Frau aus Hamburg samt ihrem Beatmungsgerät im Tandem geflogen. Bianca lebt mit Muskeldystrophie und ist fast komplett in ihrer Mobilität eingeschränkt. Ihr Traum war es, einen Gleitschirmflug zu erleben. Sie hatte rund 20 Flugschulen kontaktiert und kam dabei immer südlicher. Schließlich hat sie bei mir in Solothurn angefragt. Ich habe dann zugesagt. Es war ein Riesenprojekt. Von dem Flug gibt es auch ein Video auf Youtube (s. Link unten).

MOBITIPP: Mit welchem Gerät fliegen Sie?

Stefan Keller: Wenn ich alleine fliege, nutze ich meinen ganz normalen Alltagsrollstuhl Pro Activ Speedy F2. Damit bin ich sehr flexibel. Ich fahre mit dem Rollstuhl und dem Packsack auf dem Rücken zum Bahnhof, dann mit der Seilbahn auf den Berg. Ich starte und fliege, lande irgendwo, baue meinen Rollstuhl vom Flugrolli zum Alltagsrolli um und fahre glücklich und zufrieden nach Hause.

MOBITIPP: Mit welchen Kosten ist ein Tandemflug mit dem Gleitschirm verbunden? Können Sie einen Rahmen nennen?

Stefan Keller: Ein normaler Flug mit üblichem Aufwand kostet 230 Franken und dauert 20 bis 30 Minuten. Individuelle Anforderungen werden individuell berechnet. Es ist vieles möglich, doch besondere Umstände verursachen Zusatzkosten.
Bei Bianca hat schon das Hineinsetzen in den Flugrolli zweieinhalb Stunden gedauert. Hinzu kommen Fahrkosten, Unterbringung – der ganze Aufwand um den Flug herum. Auch das Warten auf das perfekte Flugwetter über mehrere Tage kann zu Buche schlagen. Bianca beispielsweise war eine Woche vor Ort. Da entstehen enorme Kosten. Aber man kann ja auch ein Projekt daraus machen.

MOBITIPP: Wie meinen Sie das?

Stefan Keller: So ein Flug ist eine spannende, inspirierende Geschichte – ob mit oder ohne Rollstuhl. Daraus kann man etwas machen. Viele Menschen freuen sich mit, wenn sie davon lesen oder hören. Solche Geschichten machen Mut, bringen Menschen voran. Beruflich, persönlich, in ihren Beziehungen. Deshalb funktioniert immer wieder die Finanzierung von Projekten über Crowdfunding oder über Sponsoren.
Wir lieben Erlebnisse, die von einer persönlichen Grenzüberschreitung erzählen. Dadurch wächst ein Mensch. Deshalb ist die Frage, welcher Wert den Kosten gegenübersteht, die entscheidende.

Mehr über Stefan Keller erfahrt Ihr auf seiner Webseite www.stefankellercoaching.ch

Fliegt mit Stefan Keller zur Musik von Willy Michls „Fliag Vogel fliag“:

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Fliegen mit Beatmungsgerät ist unmöglich? Bianca Reissmann hat es gewagt und sich mit Unterstützung von Stefan Keller im Tandem einen Traum erfüllt: https://www.youtube.com/watch?v=LIcFyAvLbZE

(Text: Brigitte Muschiol)

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