MOBITIPP: Für viele Menschen ist die Erkenntnis, dass sie fortan behindert sein werden, erstmal ein Schock. Wie kann man mit diesem ersten Schock umgehen?
Petra Bock: Es gibt Punkte in einem Lebensveränderungsprozess, die steuern wir weniger selbst, sondern da schaltet sich ein Notprogramm ein. Das Wichtige daran ist, dass man diesen Moment akzeptiert, nämlich dass man in einem inneren Rehabilitationsprozess ist. Da ist die gesamte Psyche gefragt, das gesamte mentale System, zu verstehen, dass es nicht mehr so weitergeht wie bisher. Das sind Momente, bei denen ich empfehle, therapeutische Hilfe in Anspruch zu nehmen. Es gibt zum Beispiel Resilienz-Spezialisten, aber auch solche für Traumata, da kommt es darauf an, was passiert ist.
In dieser ersten Phase ist es wichtig, nicht zu viel von sich zu verlangen. Gerade am Anfang sollte man sich von einem Therapeuten unterstützen lassen, aber natürlich auch von seinem persönlichen Umfeld, bis irgendwann der Zeitpunkt kommt, wo man sagt: „Jetzt kann ich und möchte ich darüber nachdenken, wie es weitergeht.“ Das ist der erste eigene Selbstwirksamkeitsimpuls, das heißt, man hat das Wissen und das Vertrauen, dass man die Situation auf seine Art beeinflussen kann.
MOBITIPP: Stellt sich dieser Impuls bei allen Menschen automatisch ein?
Petra Bock: Es gibt zwei Arten, wie Menschen mit schweren Krisen umgehen. Die einen ziehen sich zurück, versuchen das Geschehene erstmal auszuhalten, daran nicht verrückt zu werden und möglichst schmerzfrei in jeder Hinsicht zu werden. Diese Menschen stabilisieren sich erstmal und haben dann irgendwann diesen Moment, wo ihnen klar wird „Das Leben geht weiter“.
Auf der anderen Seite gibt es die Menschen, die sehr früh kämpfen. Die stellen sofort fest, dass sie in einer neuen Lebenssituation sind und versuchen, auf jeden Fall das Beste daraus zu machen. Diese Menschen beschäftigen sich sehr früh damit, was für sie der Lebenssinn sein könnte, der in diesem Ereignis steckt. Die gehen sehr schnell auf die Sinnsuche, auf eine andere mentale Ebene und fragen sich, was die neue Situation auch an positiven neuen Möglichkeiten für sie bedeuten kann.
MOBITIPP: In beiden Fällen kommen die Betroffenen früher oder später aber an den Punkt, den Sie Selbstwirksamkeit nannten?
Petra Bock: Genau! In dem Moment, wo ich den Eindruck habe, ich kann etwas tun, ich kann für mich definieren, wie es weitergehen soll, erlebe ich eine ganz enorm stärkende Kraft. Das Wissen und der Glaube an die eigene Selbstwirksamkeit ist eine der wichtigsten mentalen Fähigkeiten.
MOBITIPP: Das Tempo, in dem man an diesen Punkt kommt, ist demnach aber kein Qualitätskriterium.
Petra Bock: Nein, das ist ganz individuell. Es ist ganz wichtig, den ersten Impulsen zu folgen, weil sich eben dieses uralte Notsystem einschaltet, was sehr hilfreich ist. Gerade bei Menschen, die sofort in die Aktion gehen, ist das manchmal gar nicht so leicht, weil das Umfeld sagt: „Versuch doch erstmal runterzukommen!“. Das ist aber falsch. Man sollte das unterstützen, weil das für einige Menschen eine wichtige Krisenresilienz-Strategie ist.
MOBITIPP: Wie sollte man sich denn verhalten, wenn man erkennt, dass der Betroffene über das Ziel hinausschießt?
Petra Bock: Es kann in der Tat passieren, dass der eine oder andere überpowert. Es kann sein, dass das nur eine Verschiebung ist und die Krise etwas später kommt. Diese Menschen gehen in die Übermotivation, um sich nicht dem Schmerz und der Trauer stellen zu müssen, die mit diesem Veränderungsprozess verbunden sind. Das kann passieren, ich bin aber trotzdem der Meinung, dass wir jedem Menschen sein eigenes Timing zugestehen sollten. Wenn es so ist, dass jemand erstmal in die Übermotivation geht, um das auszuhalten, dann ist das auch legitim. Dann ist das genau der Zeitraum, den ein Mensch braucht, um dieses Thema zu bewältigen.
MOBITIPP: Gibt es Techniken, das Notfallprogramm besser zu verstehen oder auszuhalten?
Petra Bock: Aus meiner Sicht ist es sehr wichtig zu verstehen, dass wir auch in dem Moment, in dem wir körperlich sehr beeinträchtigt sind, immer noch unsere mentale Welt kontrollieren können. Da gibt es wunderschöne und vielfältige Möglichkeiten, wie zum Beispiel Achtsamkeit oder Meditationstraining. Diese Praktiken sind niedrigschwellig gut nutzbar. Man lernt dadurch nach innen zu denken und kann dort einen Raum erreichen, in dem man sich noch heil fühlt. Das ist aus meiner Sicht eine ganz wichtige Kompetenz, die wir unbedingt stärken sollten.
Zur Person
Dr. Petra Bock gehört sowohl bei Einzelpersonen als auch in Unternehmen zu den gefragtesten Coaches in Europa. In ihrer 2008 in Berlin gegründeten „Dr. Bock Coaching Akademie“ bietet die 51-Jährige Aus- und Fortbildungskurse im Bereich Coaching an. Darüber hinaus hat Dr. Petra Bock eine Reihe von Büchern geschrieben, in denen sie eigene Methoden entwickelt hat. Ihr neuestes Buch „Der entstörte Mensch – Wie wir uns und die Welt verändern“ beschäftigt sich sowohl mit individuellen als auch mit gesellschaftlichen Veränderungsprozessen.
MOBITIPP: Was sind die ersten Schritte, wenn man das Notfallprogramm durchlaufen und beendet hat? Ist man dann auf dem Weg in den Entfaltungsmodus, von dem Sie in Ihrem neuen Buch schreiben?
Petra Bock: Wenn man diese Wirksamkeit spürt, dass man sein Leben wieder selbst gestalten kann, kann Coaching eine sehr große Hilfe sein. Dafür muss man aber aus dem größten Schock und der größten Trauer raus sein und wieder nach vorne schauen können. Freue ich mich wieder auf meine Zukunft? Habe ich einen neuen Sinn? In diesem Moment können einem spezialisierte Coaches helfen, Lebensziele neu herauszuarbeiten, Ressourcen zu sammeln, die da sind, neue Ressourcen zu finden, die man jetzt in seiner neuen Lebenssituation braucht. Dieser Weg kann unheimlich viel Sinn und Erfüllung bringen.
Wichtig dabei ist, dass man sich immer wieder bewusst macht, wann man sich mental schwächt, zum Beispiel durch Angstszenarien oder dass man sich unter Druck setzt, dass jetzt alles toll sein muss. Oder dass man glaubt, man darf nicht im Mittelpunkt seines eigenen Lebens stehen, weil man zu sehr abhängig von anderen ist – das Phänomen der Selbstverleugnung. Diese Blockaden kennt jeder Mensch, also behinderte genauso wie nichtbehinderte. Es ist sehr wichtig, dass man diese Blockaden erkennt, sie hinter sich lässt und in ein anderes Denken überführt. Das meine ich mit Entfaltungsmodus.
MOBITIPP: Wie lässt sich dieser Modus konkret umsetzen?
Petra Bock: Das alte Denken, mit dem Menschen sich blockieren, ist im Grunde ein ständiger Notfallmodus. Man fragt sich ständig, ob man sicher ist, ob man genug hat, ob wir noch mehr brauchen usw. Das ist unglaublich Stress auslösend, und das ist etwas, das man nicht noch zusätzlich zu einer Krise oder einem Veränderungsprozess braucht. Dann ist es gut auf den Entfaltungsmodus umzuschalten. Das ist eine offene, neugierige, dem Leben zugewandte Haltung. Auch wenn die Möglichkeiten, die man bisher hatte, sich verändert haben, wird man in einigen Bereichen auch anders fähig. Darauf sollte man neugierig sein, zum Beispiel wie unsere Wahrnehmung sich verändert oder wie unser Blick auf Menschen sich verändert. Dort, wo die Aufmerksamkeit eines Menschen hingeht, dort verändern sich die Dinge zum Positiven.
MOBITIPP: Vielen Menschen, die sich frisch mit einer Behinderung auseinandersetzen müssen, fällt es schwer, den Fokus auf sich und ihre inneren Prozesse zu legen, weil sie glauben, ihr Umfeld damit noch zusätzlich zu belasten. Wie kann man das in Einklang bringen?
Petra Bock: Das ist ein Prozess des gegenseitigen Austarierens. Es geht ja auch nicht darum, dass man im Entfaltungsmodus nur mit sich und seinem Inneren beschäftigt ist. Es geht dabei auch darum, dass man sich wieder in Beziehung zu seiner Außenwelt setzt und sich fragt: Will ich das so? Oder möchte ich es gerne anders? Gerade in dieser Situation ist es wichtig, diese Dinge mit seinen Mitmenschen auf Augenhöhe zu besprechen und sich weiterzuentwickeln. Die entscheidende Frage dabei lautet: Wer bin ich als erwachsener Mensch in dieser Lebenssituation? Auf dieser Basis kann ich entscheiden, wie ich das einfordere, was ich brauche oder verhindere, dass jemand mich überbehütet. Das ist eine große Herausforderung, weil alle Menschen in Krisen dazu neigen, in einen unreiferen Zustand zu fallen. Eventuell braucht man dafür Unterstützung von außen, aber es lohnt sich, in diesen Erwachsenenmodus zu kommen, weil einem das unheimlich viel Kraft gibt.
MOBITIPP: Durch diese Herangehensweise könnte man zu der Erkenntnis kommen, dass man wesentliche Bereiche seines Lebens neu gestalten muss. Wie kann man das managen?
Petra Bock: Da empfehle ich vier Schritte. Der erste ist, eine Standortbestimmung vorzunehmen. Was ist jetzt anders in meinem Leben? Welche Auswirkungen hat das? Das kann alle wichtigen Themen wie die unmittelbare Lebenssituation, Partnerschaft, Familie, Freundeskreis, Beruf betreffen. Das Gute dabei ist, dass man bestimmte Rücksichten gar nicht mehr nehmen kann. Man kann diese Situation als Stunde Null ansehen, um sein Leben neu zu organisieren. Dadurch kann man noch ehrlicher zu sich selbst sein als man es vorher vielleicht war.
Der zweite ist die Frage: Wie wäre es, wenn es jetzt richtig schön wäre? Was ist das Beste, das ich jetzt noch aus meinem Leben machen kann? Das muss sich richtig gut anfühlen, wenn ich daran denke. Das muss mir Zuversicht und Hoffnung geben, denn das ist ja das Ziel, da will ich ja hin.
Der dritte Schritt ist, welche Ressourcen brauche ich dazu? Welche Menschen brauche ich, um mein Ziel zu erreichen? Welche Mittel und Möglichkeiten? Welche neue Definition von Beziehung ist jetzt wichtig? Und wie sollten sich diese Beziehungen anfühlen, damit sie für alle Seiten erfüllend sind? Wer kann uns dabei vielleicht unterstützen?
Der vierte Schritt ist die Überlegung, wie ich zu meinem Ziel komme. Was für eine Strategie brauche ich? Was ist der größte Hebel, der meine Lebensqualität sofort verbessert? Hier kann es zum Beispiel um eine neue Wohnung, eine neue Mobilitätsmöglichkeit, aber auch um neue Freundschaften gehen, zum Beispiel mit Menschen, die in einer ähnlichen Situation sind.
Das ist ein sehr schöner und sehr befriedigender Prozess, weil man da sehr viel selbst machen kann.
MOBITIPP: Frau Bock, wir danken Ihnen für das Gespräch.
Mehr zu Dr. Petra Bock findet ihr hier: https://www.petrabock.de/