Das verschwiegene Handicap

Was Sie über Inkontinenz wissen sollten, wenn Sie Ihre Lebensqualität wieder deutlich verbessern wollen.

Wie komplex das menschliche Harnsystem ist, zeigt sich daran, dass bei einer Störung vor allem die Symptome bekämpft werden können, aber selten die Ursache. Eben deshalb müssen viele Menschen ein Leben mit Inkontinenz managen. Dafür gibt es zahlreiche Wege.
Zeichnung von einem tropfenden Wasserhahn
(c) Pixabay
Inkontinenz ist oft noch ein Tabuthema

Die Frau in den gesetzten Jahren hat ein Problem: Weil sie den Harn nicht mehr vollständig zurückhalten kann, ist ihr eine Teilnahme am gesellschaftlichen Leben nur eingeschränkt möglich. Da entdeckt sie die extra für solche Fälle entwickelte Slipeinlage eines Windelherstellers und schon sieht man die Dame wieder lachend inmitten vieler Menschen. Schön, wenn es so einfach geht. Leider ist das aber meistens nur in Fernsehwerbespots wie diesem der Fall. Dennoch hat der Film eine gute Seite: Er macht öffentlich, dass es das Problem der Inkontinenz gibt und dass man darüber reden sollte. Noch immer wird das Thema Inkontinenz nämlich sowohl von den Betroffenen selbst als auch von den Nichtbetroffenen tabuisiert. Dabei handelt es sich durchaus nicht nur um eine kleine Randgruppe, die sich mit diesem Problem auseinandersetzen muss. Rund neun Millionen Menschen sind alleine in Deutschland betroffen, Dunkelziffer unbekannt.

Es gibt viele Gründe dafür, warum ein Mensch nicht mehr in der Lage ist, den Abgang des Urins selbständig zu kontrollieren. Neben den Unannehmlichkeiten, die das im täglichen Leben mit sich bringt, sollten die Betroffenen das Problem aber auch aus medizinischer Sicht ernst nehmen und sich einem Facharzt anvertrauen. Ansonsten kann es nämlich zu Schäden im oberen Harntrakt kommen, die wiederum zu lebensbedrohlichen Problemen führen können. Noch vor wenigen Jahrzehnten waren urologische Probleme die Hauptursache für eine deutlich kürzere Lebenserwartung von Querschnittgelähmten.

Mentale und körperliche Fähigkeiten entscheidend

Im Wesentlichen unterscheidet man vier Formen der Inkontinenz. Bei der Stressinkontinenz kommt es unter körperlicher Belastung wegen ungenügendem Harnröhrenverschluss zu unkontrolliertem Harnverlust. Bei der Dranginkontinenz liegt eine Fehlfunktion des Blasenmuskels vor, während der Schließmuskel der Harnblase intakt ist. Die Überlaufinkontinenz wird vor allem durch eine Vergrößerung der Prostata hervorgerufen. Bei der Reflexinkontinenz schließlich kommt es durch die Unterbrechung der Nervenbahnen im Rückenmark zu unfreiwilligem Harnverlust ohne Harndrang. Diese Form betrifft zum Beispiel querschnittgelähmte Menschen und solche mit multipler Sklerose.

Welche Methode die beste ist, um des Problems Herr zu werden, hängt immer vom Einzelfall ab und sollte mit einem kompetenten Arzt besprochen werden. Insbesondere bei der Reflexinkontinenz ist eine Heilung, die die Anwendung von Hilfsmitteln überflüssig macht, auf absehbare Zeit nicht in Sicht. Diese Art der Inkontinenz können die Betroffenen deshalb lediglich managen und zwar entweder durch aufsaugende Hilfsmittel (Windeln und Vorlagen), ableitende Hilfsmittel (Katheter) oder durch ein Elektrostimulationsgerät. Welche Methode im Einzelfall die beste ist, hängt nicht nur von den medizinischen Gegebenheiten ab, auch die mentalen und motorischen Fähigkeiten des Betroffenen müssen dabei berücksichtigt werden. Beispielsweise gibt es Menschen, die Probleme damit haben, sich einen Fremdkörper in die Harnröhre zu schieben, wie es beim Katheterisieren notwendig ist.

Verschiedene Systeme und Produkte testen

Da es inzwischen ein breitgefächertes Angebot an Inkontinenzprodukten gibt, sollten Betroffene sich gründlich informieren und verschiedene Produkte ausprobieren. Selbst bei einem vermeintlich so einfachen Produkt wie einer Windel gibt es große Unterschiede zwischen den einzelnen Herstellern und Qualitäten. Aber schon eine gefälligere Passform kann beispielsweise den Alltag erheblich erleichtern. Hinzu kommt, dass teurere Windeln tatsächlich oft hochwertiger sind und deshalb seltener gewechselt werden müssen. Da sie die Feuchtigkeit besser speichern bzw. zurückhalten, verringern sie außerdem die Gefahr von Druckgeschwüren und anderen Hauterkrankungen.

Auch im Bereich der ableitenden Inkontinenzprodukte sollten Betroffene sich gründlich informieren und stets auf dem neuesten Wissensstand halten. Das ist deshalb wichtig, weil diese Produkte besonders nah an den Körper kommen und mitunter sogar in ihn eingeführt werden müssen. Damit dieser Vorgang sicher und hygienisch ablaufen kann, ist es wichtig, eine individuell bestmögliche Handhabung zu erreichen. Neben dem Einsatz von Kathetern haben Männer bei den ableitenden Systemen mitunter die Möglichkeit ein Kondomurinal zu benutzen. Dieses wird auf den Penis geklebt und kann je nach Hautbeschaffenheit dort mehrere Tage bleiben. Aus einer Öffnung an der Spitze des Kondoms fließt der Urin in einen Beutel, der diskret unter der Hose versteckt werden kann.

Heilung nicht in Sicht

Eine Alternative zum intermittierenden Selbstkatheterismus  (ISK) kann die Implantation eines Blasenschrittmachers sein. Diese Methode kommt allerdings nur für Menschen mit einer erworbenen Querschnittlähmung in Betracht. Dabei werden in einem operativen Eingriff zunächst die Nervenenden, die von der Blase zum Rückenmark gehen, gekappt, sodass diese reflexlos wird. In einem zweiten Schritt wird dann ein Blasenschrittmacher eingesetzt, der die willkürliche Kontrolle der Blasenentleerung auf Knopfdruck erlaubt. Diese Methode wurde nach ihrer Entdeckung zunächst als zukunftweisend gefeiert, inzwischen ist sie jedoch etwas in den Hintergrund gedrängt worden. Das liegt unter anderem daran, dass der notwendige operative Eingriff ziemlich schwerwiegend ist und die dadurch vorgenommenen Manipulationen nicht rückgängig gemacht werden können. Die klassischen und bewährten Methoden, also Windel, Katheter und Kondomurinal sind deshalb nach wie vor die Mittel der Wahl. Nach der Ansicht von Experten wird das auch noch eine ganze Weile so bleiben.

(Text: Volker Neumann)

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