„Ein Hilfsmittel muss man in die Hand nehmen und darüber sprechen“

Interview mit Alf Reuter, Präsident des Bundesinnungsverband für Orthopädie-Technik (BIV-OT)

Sanitätshäuser sind entscheidende Schnittstellen zwischen Herstellern von Hilfsmitteln und Menschen mit Behinderung. MOBITIPP fragte Alf Reuter, Präsident des BIV-OT, der in Deutschland mehr 2.500 Sanitätshäuser und orthopädie-technische Werkstätten vertritt, nach den Auswirkungen des pandemiebedingten Ausfalls der Fachmessen auf die Hilfsmittelversorgung von Patienten durch die Sanitätshäuser.
© BIV-OT / Zumbansen
Alf Reuter, Präsident des BIV-OT

MOBITIPP: Herr Reuter, welche Bedeutung haben die Fachmessen der Hilfsmittelbranche wie zum Beispiel die Rehacare, die OTWorld Leipzig und die Rehab für die Sanitätsfachgeschäfte aus Sicht Ihres Verbandes?

Alf Reuter: Uns ist wichtig, dass das Sanitätshaus gut aufgestellt ist. Wir machen unsere Fachmessen vornehmlich dafür, dass die Sanitätshäuser auf dem neuesten Stand der Technik und der Versorgung sind, damit sie ihre Patienten und Kunden gut versorgen können. Im Zentrum steht immer die bedarfsgerechte, individuelle Versorgung. Deswegen investieren wir sehr viel in die OTWorld. Hier tauschen sich Leistungserbringer international über die besten Versorgungskonzepte aus und bekommen das gesamte weltweit verfügbare Sortiment zur Prüfung in die Hände. Da sind Fachleute unter sich und stellen die Weichen für die Versorgung von morgen und übermorgen.

Die OTWorld bietet immer auch ein Extraprogramm für Kostenträger, Medizinische Dienste der Krankenversicherung (MDK) und Gesundheitspolitik, damit Entscheidungsträger sich selbst ein Bild über die Relevanz von Versorgung machen können. Auch Patientenverbände sind natürlich vor Ort und diskutieren mit und zeigen Problemfelder auf, wo es besser gehen sollte.

MOBITIPP: Große Hersteller, gerade in der Rehatechnik, stellen ihr Angebot auch auf anderen Messen vor, genannt seien hier die Rehacare und die Rehab. Wie stehen Sie zu diesen Messen?

Alf Reuter: Rehacare und Rehab sind zwar Fachmessen, aber ihre Stärken liegen doch darin, dass sie Endkund:innen erreichen, die sich über die Leistungen der gesetzlichen Krankenkassen hinaus technische Hilfsmittel – zum Beispiel Handbikes für den Sport – leisten wollen. Natürlich brauchen auch diese Hilfsmittel eine fachliche Beratung und Anpassung, um die Kundenwünsche zu erfüllen. Diese Dienstleistungen müssen dann jedoch vom Kunden als Selbstzahler vergütet werden. Der Kunde entscheidet darüber, welche Versorgungsqualität er wünscht.

Leistungen, die im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung erbracht werden, sind dagegen stark reglementiert und in den Preis fließen die Festlegungen des Gesetzgebers, Anforderungen der Medical Device Regulation (MDR) und des Hilfsmittelverzeichnisses etc. ein. Unter diesen Gesichtspunkten wird dann zwischen Krankenkassen und Leistungserbringern im Spagat zwischen Wirtschaftlichkeit und Beitragsstabilität für die Versicherten verhandelt. Die OTWorld spricht daher neben Leistungserbringern auch die Patientenverbände, Kostenträger und Politik an, aber stellt sich nicht als Endverbrauchermesse auf. Daher finden wir, dass sich Verbrauchermessen wie Rehacare und Rehab dann auch konsequent als Veranstaltung im „zweiten Gesundheitsmarkt“ positionieren sollten, um für den Kunden das Preis-/Leistungsverhältnis transparent darstellen zu können. Natürlich gibt es hier Überschneidungen, aber gerade deswegen ist es für Kunden und Patienten von großer Bedeutung, beides so gut als möglich auseinanderzuhalten.

Hier ist in den letzten Jahren aus unserer Sicht manches in Schieflage geraten. Die Rehacare hat wie die Rehab ihre Stärke bei der Ansprache von Endverbrauchern. Inzwischen weiß man bei der Rehacare, auch aufgrund ihrer internationalen Ausrichtung nicht mehr, auf welcher Zielgruppe ihre Ansprache liegt. Sie hat unseres Erachtens an der notwendigen Klarheit verloren. Da würden wir uns wieder mehr Profilschärfe wünschen. Was wir zum Beispiel gut an einer Rehab finden: Sie ist regional aufgestellt und damit automatisch in die wohnortnahe Versorgung eingebettet. Auch wenn hier ein Fokus auf Endverbraucher:innen liegt, wissen diese in der Regel, wer sie mit dem entsprechenden Hilfsmittel direkt versorgen kann.

 

Der Bundesinnungsverband für Orthopädie-Technik (BIV-OT)

Der BIV-OT vertritt als Spitzenverband des orthopädie-technischen Handwerks mehr als 2.500 Sanitätshäuser und orthopädie-technische Werkstätten mit etwa 40.000 Beschäftigten. Jährlich versorgen die angeschlossenen Häuser mehr als 20 Millionen Patient:innen mit Hilfsmitteln. Um die Interessen seiner Mitglieder wahrzunehmen, verschreibt sich der BIV-OT der aktiven und verantwortlichen Mitwirkung in politischen Gremien. Neben der Beteiligung an der Entscheidung und Steuerung der medizinischen Versorgung unterstützt der Verband seine Mitglieder auch bei der Umsetzung der gesetzlichen Vorgaben durch Richtlinien.

https://biv-ot.org

 

MOBITIPP: Wie hat sich der Informationsfluss über neue Produkte und Entwicklungen von zum Beispiel den Herstellern, von den Verbandspartnern aus der Forschung und dem medizinischen Betrieb bis in die Sanitätshäuser während des pandemiebedingten Ausfalls der Fachmessen organisiert?

Alf Reuter: Chaotisch. Die Produkte sind nur dann gut, wenn man weiß, wie man damit versorgen muss. Erst die Versorgung macht aus Produkten wirkliche Hilfsmittel. Deshalb muss man diese Produkte in die Hand nehmen und darüber sprechen. Tatsächlich waren viele von diesen Informationen abgeschnitten. Viele Firmen mussten ihre Produktlaunches auch verschieben, weil internationale Lieferketten unterbrochen waren oder es noch sind.

Für manche Hersteller mag Corona in Sachen Digitalisierung als Innovationstreiber gewirkt haben – für die meisten war diese Situation bedrohlich. Corona heißt ja nicht, es findet nichts statt. In den USA oder Großbritannien war die Versorgung mit Hilfsmitteln großflächig unterbrochen, sodass Firmen erst mal mit der Sicherung ihrer Substanz beschäftigt waren. Da geht es dann nicht mehr um Innovationen. Durch die anfangs notwendigen, sehr strengen Hygienemaßnahmen waren die Hersteller von ihrer nationalen und erst recht internationalen Kundschaft abgeschnitten. Deshalb wird die nächste OTWorld auch ein Fest werden, weil sich alle wieder treffen, die Produkte sehen und erfahren, wie man damit seine Patient:innen – auch unter schwierigen Verhältnissen – versorgt.

Auch 2022 werden wir wieder der internationalen Fachwelt neue Versorgungskonzepte auf der OTWorld vorstellen, die unter Umständen in der gesetzlichen Versorgung erst in zwei bis drei Jahren für die Patient:innen zur Verfügung stehen werden.

MOBITIPP: Welche Konsequenzen hatte die internationale Situation vor allem in den USA, für die Branche und die Versorgung in Deutschland?

Alf Reuter: Die internationalen Märkte sind durch Corona unter Druck geraten. Gerade die USA ist der größte Selbstzahlermarkt, da die gesetzliche Krankenversicherung quasi nicht existiert. Nun muss man wissen, dass die großen Hersteller wie Ottobock, Bauerfeind, Medi etc. Global Player sind. Für sie hat eine Pandemie unmittelbar die unterschiedlichsten Auswirkungen auf ihre Märkte und hat sie vor große Herausforderungen gestellt.

Die Hilfsmittelversorgung in Deutschland hat für viele Länder eine Leitfunktion, sodass international während Corona die Augen auf uns gerichtet waren. In dieser Verantwortung haben wir Ende Oktober 2020 auch den dreitägigen digitalen Weltkongress OTWorld.connect veranstaltet. Es war notwendig, der Branche eine Stimme und einen Raum des Austauschs zu geben. Mit unseren rund 250 Beiträgen haben wir schätzungsweise 20.000 Interessenten aus 93 Ländern erreicht. Es hat uns sehr bewegt, dass wir in dieser Zeit mit unserer Plattform tatsächlich für viele Teilnehmer:innen die einzige Möglichkeit des Austauschs geboten haben und sehr viel Lob und Dank für diese Veranstaltung erhalten haben.

MOBITIPP: Welche Arbeitsschwerpunkte hat der BIV-OT während der Pandemie gesetzt?

Alf Reuter: Für Deutschland galt es erst mal zu sichern, dass die Hilfsmittelversorgung aufrecht erhalten bleiben musste. Das war überhaupt nicht selbstverständlich, denn durch den Fokus auf „Intensivbetten“ wurde die Notbremse bei der gesamten konservativen Versorgung gezogen. Von einem Tag auf den anderen mussten geplante Operationen verschoben werden und es stellte sich die Frage, wie schnelles, qualitätsgesichertes Entlassmanagement unter Pandemiebedingungen funktioniert.

Sanitätshäuser verantworten vielfach die ambulante Sauerstoff-Therapie. Bei einem Virus, das die Lungen angreift, muss das funktionieren. Die Bilder aus Indien, in denen wir Patient:innen in Luftnot gesehen haben, sind uns in Deutschland erspart geblieben. Aber das war nicht selbstverständlich, denn die Politik hat zunächst Sanitätshäuser nicht systemrelevant für die Versorgung eingestuft. Zum Glück konnten wir hier schnell überzeugen und nachsteuern.

MOBITIPP: Hat der Stillstand während der Pandemie auch Chancen für die Hilfsmittelbranche beziehungsweise für die Sanitätshäuser eröffnet?

Alf Reuter: Die Zeit hat ganz klar vor Augen geführt, dass zu einem Produkt eine ordentliche Versorgung gehört. Gerade wenn man die Sozialpädiatrischen Zentren (SPZ) oder andere Institutionen für Menschen mit Behinderungen sieht. Man hat sie zugemacht und geschaut, wo man Menschen mit Behinderung unterbringt. Die Physiotherapie von Patient:innen mit neurologischen Erkrankungen musste zum Teil ausgesetzt werden, Stroke Units für Schlaganfallpatient:innen konnten nicht durchgängig arbeiten, der Medizinische Dienst der Krankenkassen musste während der ersten Phase der Pandemie auf die persönliche Dokumentation komplett verzichten.

Wenn wir hier überhaupt von einer Chance reden können, dann nur von der, dass uns die Pandemie vor Augen führt, dass das Funktionieren der Versorgung nicht als Selbstverständlichkeit hingenommen werden sollte. Wir müssen sie aktiv sicherstellen und Vorkehrungen treffen, dass die Versorgung pandemiesicher wird.

MOBITIPP: Ist die Hilfsmittelversorgung der Kunden aktuell sichergestellt oder gibt es Sortimente, bei denen mit Engpässen zu rechnen ist?

Alf Reuter: Das größte Problem liegt sicherlich im Moment bei der Versorgung mit rehatechnischen Hilfsmitteln. Während Corona und aus anderen Gründen der Globalisierung sind die Frachtkosten zwischen Asien und Europa horrend gestiegen. Da sehr viele Hersteller ihre Produktion zum Beispiel von Rollstühlen nach China verlegt haben, trifft diese Problematik die Versorgung in Deutschland.

Es kommt schon jetzt zu Versorgungsengpässen, wo Sanitätshäuser durch Reparaturen und Wiedereinsatz von Reha-Technik das Schlimmste verhindern müssen. In Deutschland war zu lange Zeit die Ausschreibung von individuellen Hilfsmitteln erlaubt. Da hier zu Anfang der niedrigste Preis das einzige Zuschlagskriterium war, sind die Preise bundesweit drastisch in den Keller gegangen. Zu diesen Preisen konnte keine qualitätsgesicherte Versorgung mehr angeboten werden und der Gesetzgeber hat die Ausschreibungen in der individuellen Versorgung verboten.

Die Krankenkassen sind seitdem aufgefordert, neu zu verhandeln, aber wo dies noch nicht geschehen ist, bestimmt das niedrige Preisniveau bestimmt noch immer den Markt. Drastische Preiserhöhungen durch die Frachtkostenproblematik und Dumpingpreise durch Ausschreibungen – das ist eine Mischung mit Dynamit. Daher sind sämtliche Vertreter der Leistungserbringer wie BIV-OT, RehaVital, SaniAktuell, Egroh etc. mehrfach auf die Kostenträger zugegangen und haben Alarm geschlagen. Nachdem nichts passiert ist, haben wir es nun mit den ersten Kündigungen der Versorgungsverträge zu tun. Es werden weitere folgen, wenn nicht schnell gehandelt wird.

MOBITIPP: Was kann man Nutzer:innen raten, die etwa einen neuen Rollstuhl oder einem Handbike benötigen: Versorgung verschieben? Mit der gleichen Marke auf „Nummer Sicher” gehen? Oder einfach kommen und sich beraten lassen?

Alf Reuter: Wir wissen genau, wie wir mit Risikopatienten umgehen. Schon vor der Pandemie mussten unsere Häuser umfangreiche Hygienepläne erfüllen. Da man in der Politik dann doch gesehen hat, welche Relevanz wir als Versorger haben, erhielten Mitarbeiter:innen in Sanitätshäusern genauso wie Risikopatient:innen eine erhöhte Impfpriorisierung. Daher gehen wir von einer sehr hohen Impfdichte bei unseren Häusern aus. Ich greife sicher nicht zu hoch, wenn ich von etwa 90 Prozent spreche. Daher: Einfach kommen, sich beraten lassen. Fragen stellen. Es gibt einen etwas in die Jahre geratenen, aber immer noch zutreffenden Spruch: Helfen ist unser Handwerk – und das machen wir mit Herzblut.

MOBITIPP: Herr Reuter, wir danken für das Gespräch.

(Text: Brigitte Muschiol)

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