Rollstuhlfahrer verbringen einen großen Teil der Zeit im Sitzen. Das ist für den Körper eine große Herausforderung. Die Bandscheiben werden aufgrund der fehlenden Bewegung und der daraus folgenden mangelhaften Flüssigkeitsversorgung stark belastet. Auch die Muskulatur leidet unter der Bewegungsarmut. Sie wird immer schwächer. Ein zusätzliches Problem ist die starke Beanspruchung der Haut. Rückenschmerzen, Verspannungen, Haltungsschäden und Dekubitus können entstehen oder verstärkt werden.
Doch ein Rollstuhl soll Mobilität ermöglichen, die Aktivitäten des täglichen Lebens erleichtern und gleichzeitig die Gesundheit schützen. Das ist ein hoher Anspruch, insbesondere weil einige Ziele einander ausschließen. Umso wichtiger ist es, bei der Auswahl eines geeigneten Rollstuhls darauf zu achten, dass er Positionsveränderungen einzelner Körperregionen oder sogar des ganzen Körpers ermöglicht. Eine Sitzkantelung nach hinten ist mittlerweile in vielen E-Rollis Standard, optional können oft noch elektrisch verstellbare Beinstützen, eine Liege- oder sogar Stehfunktion und andere Features bestellt werden. Dadurch können kritische Körperregionen entlastet und eine längere Verweildauer im Rollstuhl ermöglicht werden.
Streckungen und Stauchungen verhindern
Bietet das Hilfsmittel aber viele Funktionen für Umpositionierungen an, ist auch Vorsicht geboten. Technisch ist es zum Beispiel keine große Herausforderung, die Rückenlehne elektrisch in eine liegende Position zu fahren. Das Problem dabei ist, dass der Drehpunkt zwischen Sitzfläche und Rücken hinter dem Nutzer liegt, während dessen eigener Drehpunkt in der Hüfte ist. Da die beiden Drehpunkte nicht deckungsgleich sind, verschieben sich die Sitz- und die Rückenfläche unter dem Nutzer. Das wiederum führt im besten Fall nur dazu, dass die Rückenlehne an der Kleidung zerrt und zum Beispiel das Hemd aus der Hose gezogen wird. Im schlechtesten Fall führt die Verschiebung aber zu schmerzhaften Streckungen oder Stauchungen und einer hohen Belastung der Haut.
Sind die Armlehnen mit dem Rücken verbunden, fahren auch sie einfach nach hinten mit und stehen dann im rechten Winkel in der Luft. Sind sie nicht mit dem Rücken verbunden, bleiben sie in ihrer ursprünglichen Position stehen. In beiden Fällen sind sie für den Nutzer kaum noch oder gar nicht mehr erreichbar. Dadurch kann er nicht mehr einfach nur die Arme nicht mehr ablegen, sondern auch die Steuerung nicht mehr (richtig) erreichen, die ja in der Regel vorne an der Armlehne angebracht ist. Mit der Kopfstütze verhält es sich ganz ähnlich. Durch den hinter dem Rücken des Nutzers liegenden Drehpunkt wird das Rückenteil des Rollstuhls beim Zurückfahren nach hinten länger – die Kopfstütze fährt dadurch aus der Reichweite des Nutzers heraus.
Druck- und Scherkräfte minimieren
Um diese Effekte zu verhindern, werden hochwertige Elektrorollstühle und Stehtrainer mit einer biomechanischen Sitz- und Rückeneinheit ausgestattet. Diese gleicht die unterschiedlichen Positionen der Drehpunkte zwischen Nutzer und Rollstuhl durch eine Mechanik aus. Das Rückenteil wird dadurch so verschoben, dass es immer exakt in derselben Position zum Nutzer verbleibt. Dadurch entstehen keine Druck- und Scherkräfte, was sich gut daran erkennen lässt, dass die Kleidung des Nutzers sich fast nicht verschiebt. Auch die Armlehnen bleiben während des gesamten Vorgangs stets in derselben Position zum Nutzer, sodass er die Steuerung stets gut erreichen und alle Funktionen sicher bedienen kann.
Durch den automatischen Längenausgleich bleibt auch die Kopfstütze in derselben Position zum Nutzer, wodurch dessen Kopf jederzeit Halt hat. Für die Nutzung der Liegefunktion ist das eine unverzichtbare Voraussetzung, damit der Kopf nicht in der Luft hängt. Noch wichtiger ist der biomechanische Ausgleich, wenn der Nutzer seinen Kopf ohne die Kopfstütze nicht halten kann oder sogar von dieser fixiert wird. Auch Rollstuhlsteuerungen, die mit der Kopfstütze verbunden sind oder mit dem Kopf bedient werden, wie zum Beispiel ein Lippen-Joystick, müssen bei allen Positionsveränderungen stets in exakt derselben Stellung zum Nutzer verbleiben, damit dieser die volle Kontrolle über sein Hilfsmittel behält.
Rücken, Sitz und Beinstützen optimal einstellen
Da bei der Liegeposition auch die Beinstützen hochgefahren werden, sollten diese ebenfalls mit einem automatischen Längenausgleich ausgestattet sein. Andernfalls kann es passieren, dass die Fußplatten von unten gegen die Füße drücken und der Nutzer entweder die Knie beugen muss oder im Rollstuhl nach oben geschoben wird. Nur wenn der Rollstuhl mit einer biomechanischen Sitz- und Rückeneinheit und Beinstützen mit einem automatischen Längenausgleich ausgestattet ist, die optimal aufeinander abgestimmt sind, kann eine vollständig ebene und erholsame Liegeposition im Rollstuhl erreicht werden. Vor allem ist der Vorgang der Positionsveränderung bequem, ohne dass dabei Druck- oder Scherkräfte entstehen.
Bei Elektrorollstühlen, die eine Stehfunktion integriert haben, ist der biomechanische Ausgleich sogar noch wichtiger. Das gilt auch für Stehtrainer, die den Nutzer aus der sitzenden in die stehende Position bringen. Um sich vertikal aufrichten zu können, müssen viele Menschen mit Behinderung durch Pelotten oder Gurte fixiert werden. Findet die Aufrichtung ohne biomechanischen Ausgleich statt, wird der entstehende Druck besonders auf die Fixierungspunkte gelenkt und führt dort zu Schmerzen oder sogar körperlichen Schädigungen.
Nicht alle Systeme sind gleich gut
Nicht alle biomechanischen Systeme, die in Elektrorollstühlen und Stehtrainern angeboten werden, haben indes dieselbe Qualität. Hinzu kommt, dass die Güte des biomechanischen Ausgleichs auch davon abhängt, wie gut die Rollstuhlanpassung in der Grundposition erfolgt ist. Wenn bereits im Sitzen zum Beispiel die Sitztiefe oder die Länge der Beinstützen nicht optimal eingestellt wurde, zieht dieser Fehler sich bei Positionsveränderungen durch den gesamten Bewegungsablauf bis in die Endposition durch und kann sich dann sogar noch verstärken. Deshalb ist es wichtig, den biomechanischen Ausgleich möglichst selbst auszuprobieren, um sicherzustellen, dass er in jeder Position eine optimale Nutzung des Rollstuhls ermöglicht.