So richtig scheint die Versorgungskrise noch nicht im Alltag vieler Menschen angekommen zu sein. Man hört und liest zwar immer wieder von Lieferengpässen und explodierenden Kosten in einigen Branchen, doch im täglichen Leben sind die Auswirkungen für die meisten Menschen noch gering. Das liegt unter anderem daran, dass viele Folgen der Krise erst mit einer Verzögerung mit voller Wucht im Markt ankommen. Überdies arbeiten viele Unternehmen mit Hochdruck daran, ihre Strukturen so umzustellen, dass ihre Kunden möglichst wenig betroffen sind.
Doch auch in der Hilfsmittelbranche rumort es immer lauter. Insbesondere die großen Hersteller haben in der Vergangenheit Teile ihrer Produktion von Standardprodukten aus Kostengründen nach China verlegt. Nun sorgen gleich mehrere Effekte dafür, dass zum einen der Kostenvorteil dahinschmilzt und zum anderen die Lieferketten gefährdet oder sogar zeitweise unterbrochen waren oder noch sind. Bei einigen Hilfsmitteln hat das bereits dazu geführt, dass es zu wochenlangen Lieferverzögerungen gekommen ist. Experten erwarten, dass das erst der Anfang war und die Situation sich weiter verschärfen wird.
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Die Lage auf dem Hilfsmittelmarkt ist derzeit unsicher und unübersichtlich. Das kann in nächster Zeit bei einigen Produkten zu erheblichen Lieferengpässen führen. Wenn Sie bereits jetzt absehen können, dass Sie in absehbarer Zeit eine neue Versorgung mit einem bestimmten Hilfsmittel benötigen, sollten Sie sich rechtzeitig mit dem Hersteller und/oder Ihrem Fachhändler in Verbindung setzen und die aktuelle Lieferzeit beziehungsweise die zu erwartende Entwicklung abklären. Gegebenenfalls sollten Sie die Neuversorgung früher als sonst üblich in die Wege leiten oder sich nach einem alternativen Hilfsmittel umsehen. Falls Sie die Anschaffung eines Hilfsmittels geplant haben, das Sie selbst bezahlen müssen, könnte es sich lohnen, diesen Kauf vorzuziehen.
Wenig Spielraum zum Gegensteuern
Die nackten Zahlen, die die Hilfsmittelbranche in Bedrängnis bringen, sind dramatisch. Die Kosten für Roh- und Werkstoffe wie Stahl, Aluminium und Kunststoffe sind zum Teil um bis zu 50 Prozent gestiegen. Einige Halbleiter und Chips, die zum Beispiel für die Steuerungen von Elektrorollstühlen benötigt werden, haben Lieferzeiten von mehreren Monaten bis zu einem Jahr. Hinzu kommt, dass die Frachtkosten für Importe aus China zeitweise um mehrere Hundert Prozent (!) gestiegen sind und sich gleichzeitig die Laufzeiten für Container fast verdoppelt haben. Alles das hat dazu geführt, dass nicht nur Produkte, die aus China importiert werden, langsamer, später und deutlich teurer in Deutschland ankommen. Auch Unternehmen, die weitgehend hierzulande produzieren, sind massiv betroffen, weil einzelne Komponenten derzeit nicht oder nur sehr schwer zu besorgen sind.
Einer der Gründe für diese Entwicklung ist die Corona-Pandemie, aber das Problem liegt insgesamt tiefer. Deshalb ist auch nicht zu erwarten, dass die Situation sich in absehbarer Zeit entspannen wird, im Gegenteil. Für die großen Hersteller von Hilfsmitteln ist das eine gewaltige Herausforderung. Anders als etwa bei Autos oder Laptops können die Nutzer von Rollstühlen nicht ohne Weiteres für ein Jahr für eine neue Versorgung vertröstet werden. Andererseits sind die Hersteller durch Verträge mit den Kostenträgern an feste Preise gebunden und können Kostensteigerungen nicht weitergeben. Das schmälert nicht nur den Gewinn, sondern auch den Spielraum für Investitionen zur Überwindung der Krise.
Hersteller und Leistungserbringer machen Druck
Dennoch haben viele Hersteller von Hilfsmitteln schon früh reagiert, um die heftigsten Auswirkungen für ihre Kund:innen abzufedern. Beispielsweise wurden die Lagerbestände hochgefahren, um einen größeren Puffer zu haben. Auch die Lieferketten wurden optimiert und die Lieferanten zu verlässlichen Lieferzusagen verpflichtet. Bei einigen Herstellern gibt es aufgrund der Krise überdies bereits Überlegungen, zumindest Teile ihrer Produktion wieder zurück nach Europa zu holen. Trotzdem ist es bei manchen Hilfsmitteln bereits zu Lieferengpässen gekommen. Die längeren Wartezeiten für bestimmte Produkte haben dazu geführt, dass einige Anwender entweder das schon vorhandene Hilfsmittel länger nutzen oder sich nach einer Übergangslösung umsehen mussten. Es kamen auch deutlich mehr Produkte aus den Beständen der Leistungserbringer zum Wiedereinsatz, um die Versorgung der Kunden aufrecht erhalten zu können.
Da absehbar ist, dass die Rohstoff- und Versorgungskrise noch länger anhalten wird, haben zahlreiche Hersteller von Hilfsmitteln und die Arbeitsgemeinschaft der Leistungserbringerorganisationen (ARGE), welcher der Bundesinnungsverband für Orthopädie-Technik (BIV-OT), die Leistungserbringergemeinschaften CURA-SAN GmbH, rehaVital Gesundheitsservice GmbH, RSR Reha-Service-Ring GmbH, Sanitätshaus Aktuell AG und die EGROH-Service GmbH angehören, Alarm geschlagen. Ihrer Meinung nach kann das Problem nicht allein von den Herstellern und Leistungserbringern gestemmt werden. Sie fordern deshalb ein Sofortprogramm sowie eine Neuverhandlung der Verträge mit den Kostenträgern.
Kettenreaktion bei den Preisen
Die Kostenträger wiederum können derzeit noch entspannt auf die bestehenden Verträge verweisen und auf die Einhaltung derselben pochen. Es ist jedoch absehbar, dass es spätestens im kommenden Jahr zu einer erheblichen Steigerung der Preise für Hilfsmittel kommen wird. Das wiederum wird die Kosten der Krankenkassen deutlich erhöhen, und es bleibt abzuwarten, welche Konsequenzen sie daraus ziehen werden. Zu befürchten ist jedoch, dass einige Krankenkassen versuchen werden, die Kostensteigerung durch eine (noch) restriktivere Genehmigung von Hilfsmitteln teilweise wieder aufzufangen. Auf diese Weise käme die derzeitige Rohstoff- und Versorgungskrise dann doch mit einer Verzögerung auch im Alltag der Nutzer von Hilfsmitteln an.